Machtkämpfe zwischen Schiiten im Süden

Wer in der Stadt Nadschaf das Sagen hat, bestimmt auch im künftigen Irak mit. Und der Einfluss aus dem benachbarten Iran ist stark

Für Teheran wie Washington steht ihr politischer Einfluss auf die Entwicklung im Irak auf dem Spiel

BERLIN taz ■ Der Konflikt zwischen verschiedenen schiitischen Fraktionen in der heiligen Stadt Nadschaf ist fürs Erste beigelegt. Nach Angaben der Agentur Reuters haben am Montag Stammesführer die Kontrolle über das Anwesen von Ajatollah Ali al-Sistani übernommen. Am Samstag hatten sich Bewaffnete vor dem Haus der höchsten schiitischen Würdenträgers im Irak in Stellung gebracht und seine Ausreise aus dem Irak verlangt. Bereits am Donnerstag war es zu einem blutigen Zwischenfall gekommen, als der gemäßigte Geistliche Abdul Madschid al-Khoei in der Imam-Ali-Moschee von einer aufgebrachten Menge regelrecht zerhackt wurde. Al-Khoei war erst wenige Tage zuvor unter dem Schutz von US-Truppen aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt, um sich an der Bildung einer Übergangsregierung zu beteiligen.

Augenzeugen und schiitische Geistliche haben für beide Vorfälle eine Gruppe namens „Dschamaat-e Sadr-Thani“ verantwortlich gemacht. Immer wieder habe die aufgebrachte Menge den Namen von Moqdada al-Sadr gerufen, berichtet ein Korrespondent der arabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat. Der 22-Jährige ist Spross der angesehenen schiitischen Gelehrtendynastie um Mohammed Baqr al-Sadr. Unklar ist aber, wer sich hinter der Gruppierung verbirgt, da sie bislang nicht in Erscheinung getreten ist.

Mohammed Baqr al-Sadr hatte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Gründzüge für eine islamische Staatsordnung vorgelegt, in der die höchste politische Autorität nicht einem so genannten Wächterrat wie heute im Iran, sondern einem Parlament übertragen werden sollte – ein Konzept, das heute von fast allen schiitischen Oppositionsgruppen vertreten wird. Zugleich hatte al-Sadr entscheidenden Anteil an der Gründung der oppositionellen Dawa-Partei, die sich vor allem mit harschem Antikommunismus hervortat. Im Jahr 1980 wurde er unter der Anschuldigung, Dawa habe hinter einem Anschlag auf den damaligen Vizepremier Tarik Asis gesteckt, zusammen mit seiner Schwester hingerichtet. Ungeklärt ist bis heute der Mord an dem angesehenen Geistlichen Mohammed Sadiq as-Sadr und seiner beiden Söhne 1999 in Nadschaf. Dass aber der 22-jährige Moqtada al-Sadr Anspruch auf die religiöse oder gar politische Führung der irakischen Schiiten erheben könnte, schließen Beobachter aufgrund seine jugendlichen Alters aus.

Mit dem Grab von Imam Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, ist Nadschaf ein bedeutender Wallfahrtsort der Schiiten. In Nadschaf hatte seinerzeit auch der Ajatollah Chomeini Zuflucht gefunden. Bis heute ist die Stadt ein Ort schiitischer Gelehrsamkeit und Frömmigkeit. Wegen des hohen Spendenaufkommens für die heilige Stätte ist die Stadt aber nicht nur religiös, sondern auch politisch und finanziell von Bedeutung. Wer hier das Sagen hat, wird auch auf die politischen Entwicklungen im künftigen Irak wesentlich Einfluss nehmen. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung sollen die Schiiten nach dem Willen der Oppositionsgruppen eine entscheidende Rolle bei der Neugestaltung des Irak spielen.

Anspruch darauf erhebt vor allem der in Teheran ansässige „Hohe Rat für die Islamische Revolution im Irak“ (Sciri) um Mohammed Baqr al-Hakim, der für die kommenden Tage seine Rückkehr in den Irak angekündigt hat. Der Sciri hat mehrere tausend Kämpfer unter Waffen, die aber von Teheran daran gehindert wurden, aktiv in den Krieg gegen das Saddam-Regime einzugreifen. Ohnehin ist umstritten, wie hoch ihr Einfluss unter der schiitischen Bevölkerungsmehrheit im Irak heute noch ist. Nach dem Golfkrieg 1991 hatten ihre Einheiten das Weite gesucht, als das Regime die schiitischen Aufstände erbarmungslos niederschlug. Daraufhin wurde Ajatollah Abdul Qassem al-Khoei, das spirituelle Oberhaupt der irakischen Schiiten, unter Hausarrest gestellt, sein jetzt ermordeter Sohn ging ins Exil. Nach seinem Tod ein Jahr später wurde sein Schüler Ajatollah Ali al-Sistani zu seinem Nachfolger gewählt. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil gelang es al-Khoei anscheinend, den Geistlichen für eine neutrale Haltung gegenüber den amerikanischen Besatzungstruppen zu gewinnen.

Der Umstand, dass die Wurzeln der Familie von al-Sadr im Gegensatz zu al-Sistani und al-Khoei im Irak und nicht im Iran liegen, hat Spekulationen genährt, bei dem Konflikt könnte es sich um Fraktionskämpfe zwischen einer iranischen und irakischen Ausrichtung handeln. Sollte Nadschaf künftige wieder seine Rolle als Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit zurückgewinnen, dürfte das den religiösen und politischen Einfluss des iranischen Qom zurückdrängen. Insofern steht für Teheran wie für Washington auch ihr politischer Einfluss auf die künftigen Entwicklungen im Irak auf dem Spiel. INGA ROGG