berliner szenen Dänen knirschen …

… mit den Zähnen

Vielleicht reicht es wirklich nicht aus, einfach nur Berlin zu verlassen. Viel wärmer ist es in Westdeutschland nicht, und brutalstmöglich gespart wird ja überall. Doch wohin soll man gehen!? In der Regionalbahn kurz hinter Frankfurt paukte Montagabend jemand dänische Vokabeln. Sah alternativ aus. Radtasche, Fahrradhelm, verwaschene Jeans. Ich dachte leicht melancholisch an meinen letzten Strandurlaub in Jütland, dann blickte ich auf einen schläfrigen Arbeiter im Blaumann, die Augen halb offen, die Tuborg-Dose leer, die Bild-Zeitung ausgelesen.

Draußen war alles schwarz. Feierabend. Der Zug hielt abrupt an einem schummrigen Vorortbahnsteig. Ein weiterer Pendler stieg ins Abteil, Anzug, lederner Aktenkoffer. Setzte sich, zog ein Buch aus der Tasche: „Dänisch für Anfänger“. – „Hast du auch keinen Bock mehr auf Deutschland?“, fragte ihn spontan der Vokabelpauker und hielt sein Buch in die Höhe. Der Aktentaschentyp sah den Titel und nickte: „Ja, mir reicht’s, ich wandere aus. Mobbing im Betrieb, Sozialabbau, hässliche Innenstädte, in drei Monaten bin ich in Kopenhagen!“ Das sah der Radfahrer – ein arbeitsloser Physiker – genauso: „Früher wollte ich immer nach Italien, Fiat 500, einsames Bauernhaus: aber unter Berlusconi leben? Nein, danke!“

Also auf nach Skandinavien: gemäßigte Regierungen, unberührte Natur, funktionierendes Bildungswesen. Der Aktenkoffertyp hatte allerdings noch einen Grund für die besondere Eile. Seine Frau sei Dänin und habe seit Jahren fürchterliches Heimweh: „Sie knirscht mittlerweile sogar nachts mit den Zähnen.“ Dann musste er allerdings zugeben: „Immerhin übernimmt die deutsche Krankenkasse die Kosten der Behandlung!“.

ANSGAR WARNER