Preisträger im Widerspruch

Andreas Schleicher hat für Pisa den Theodor-Heuss-Preis erhalten. Der Dirigent der Bildungsforscher ist er bereits. Der Anerkennung durch die Schulreformer stehen noch Missverständnisse im Weg

Deutschland ist „ein besonders bizarrer Fall“ von Bildungssystem

von CHRISTIAN FÜLLER

Der Mann, der seit Samstag den Theodor-Heuss-Preis, den bedeutendsten deutschen Demokratiepreis, in Händen hält, ist ein Widerspruch in sich.

In der Öffentlichkeit tritt Andreas Schleicher als der Zaubermeister der Zahlen und der Statistiken auf. Mit seiner Schüler-Studie „Programme of International Students Assessment“ (Pisa) hat er nachgewiesen, was bislang niemand in den 32 teilnehmenden Staaten wusste: was in Schulen wirklich vor sich geht.

Alles ist berechenbar, messbar, planbar. So lautet die Botschaft, die der Mann aussendet. Schleichers Sätze sind punktgenau, präzise, penibel. Schleicher, 38, ist Physiker und Mathematiker. Auf seinem Abiturzeugnis steht eine makellose 1,0.

Dabei ist Andreas Schleicher auch ganz anders. Als er die vierte Klasse beendet hat, dekretiert sein Grundschullehrer: „Ungeeignet fürs Gymnasium“. Sein Vater, ein Pädagogik-Professor, ignoriert das Veto – und schickt ihn aufs Gymnasium. Der Zehnjährige erlebt sich damals selbst als schlechten und ängstlichen Schüler. Erst in der siebten Klasse entwickelt er sich zum Einser-Pennäler. Dabei hilft ihm nicht etwa die Schule, sondern die Geige. Im Ahrensburger Jugendorchester fasziniert und verwandelt ihn die Musik. Und sein Dirigent, „weil er einzelne Instrumente zu einem Orchester zusammenführte“.

Heute ist Andreas Schleicher selbst so etwas wie ein Dirigent. Um ihn herum haben sich weltweit rund 300 Forscher geschart. Sie alle werkeln an Pisa, eigentlich an einer neuen Wissenschaft: der empirischen Bildungsforschung. Sie puzzeln an den komplizierten Zusammenhängen einer Sache, von der fälschlicherweise alle glauben, Bescheid zu wissen: der Schule.

Jugend forscht, Physikstudium in Deutschland, dann den preisgekrönten (australischen) Master in Mathe. Schleichers biografischer Weg nach dem Abitur führte zielgerichtet zu dieser neuen Disziplin. Und in Wahrheit war sie doch Zufall.

„Herr Schleicher“, fragte ihn irgendwann sein Chef, „was können wir gegen dieses Geschwafel tun?“ Schleicher und der Chef der OECD-Bildungsabteilung Tom Alexander hatten gerade wieder eine internationale Konferenz mit Bildungspolitikern und -bürokraten durchlitten. „Die reden und reden und keiner weiß, was in den Schulen wirklich passiert“, stöhnte Alexander. Sein junger Chefstatistiker Schleicher setzte sich an den Computer. Heraus kam eine Skizze von Pisa. Jenem Programm, das bis ins Jahr 2009 die Schulsysteme von Kanada bis Japan, von Finnland bis Brasilien durchleuchten wird – und durcheinander wirbeln.

Zum Beispiel das deutsche. Schleicher hat mit Pisa herausgefunden, was die Schule hier mit Schülern so alles anrichtet. Die getesteten 15-Jährigen sind oft erst in der achten Klasse, weil sie so oft sitzen bleiben. Es gibt hierzulande, obwohl es vermeintlich sehr gute Schüler in speziellen Eliteanstalten (Gymnasien) heranzüchtet, ziemlich wenige Spitzenschüler. Und die Noten, die deutsche Schüler bekommen, haben wenig mit ihren Leistungen zu tun. Vieles von dem ist weltweit einmalig, Deutschland sei „ein besonders bizarrer Fall“ von Bildungssystem, heißt es in der Laudatio auf Schleicher.

Die Theodor-Heuss-Stiftung hat die Dirigentenrolle Andreas Schleichers mit dem Demokratiepreis verändert. Seit Samstag steht der gebürtige Hamburger auch an der Spitze der deutschen Schulreformer. Doch wer sich Hoffnungen darauf macht, dass Schleicher bereits jetzt der unumstrittene Leitstern der Bildung ist, sollte die Dissonanzen zwischen ihm und dem Orchester der Reformpädagogen nicht überhören.

Ein Hartmut von Hentig etwa wiegt den Kopf im Zweifel, wenn Schleicher sagt: Wir brauchen klare Ziele für die Schüler. Für Hentig, den ersten Geiger der Alternativpädagogik, ist Bildung ein in jedem Fall ergebnisoffener Prozess. Also ziellos in gewisser Hinsicht. Und nun kommt der jungsche Repräsentant der weltweit operierenden Wirtschaftsorganisation OECD mit klaren Zielvorgaben daher.

„Herr Schleicher, was können wir gegen das Bildungsgeschwafel unternehmen?“

Nicht anders geht es mit den unvermeidlichen deutschen Bildungsidealisten. Wer sie fragt, wie eine gute Schule erreichbar sei, der kriegt die Antwort: Durch eine andere Lehrerbildung! Gute Menschen sind nur mit neuen Lehrern formbar! Als dieser erwartbare Einwand gegen schnelle Schulreformen bei der Heuss-Stiftung geäußert wurde, antwortete Schleicher mit einer Frage: Was würden Sie davon halten, wenn der Weltmarktführer Nokia Sie mit der Entwicklung einer neuen Generation von Mobiltelefonen so lange vertrösten wollte, bis die neue Generation von Ingenieuren zu Ende studiert hat?

Am schärfsten ist der Widerspruch vielleicht aus der Reihe der praktischen Schulreformer. Ihr „Aufruf für einen Verbund reformpädagogischer Schulen“ (siehe unten), der zur Preisverleihung Schleichers erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist eine Zumutung – für den Ausgezeichneten. Wir sind gegen zentrale Prüfungen, wir sind gegen eine „Output-Orientierung“ des Lernens, wir sind gegen Konkurrenz. So lautet die Litanei der Reformpraktiker. Manche politische Forderung des Aufrufs wendet sich damit frontal gegen Pisa. Eine Ohrfeige für Schleicher.

Der junge Mann erträgt den Widerspruch. Wahrscheinlich weiß er, dass er auf Missverständnissen gründet: weil er mit seinen zentralen Tests nicht Schüler sitzen bleiben lassen, sondern Wissen über Schulen erzeugen will. Weil seine Zielorientierung aus Kompetenzen besteht und nicht auf der Festlegung neuer Lernplaninhalte. Und weil sein internationaler Vergleich zu Konkurrenz und zu Kooperation führt.

Schleicher erklärt das nicht umständlich. Er bietet den Reformpädagogen das Gemeinsame an: dass Schulen künftig Verantwortung übernehmen müssen für den Lernerfolg ihrer Schüler.

Die Reformer akzeptierten das gerne. Denn das praktizieren sie ja schon lange. Wenn ein Schüler in ihren Schulen nicht mitkommt, dann bestrafen sie ihn nicht – anders als die Staatsschule – mit schlechten Noten oder Aussortieren. Sie fragen: Wie können wir diesen Schüler motivieren und mitnehmen?