Verschwimmende Lufthoheit

SPD-Landeschef Peter Strieder und seine Parteispitze haben keinen Mann fürs Herz, keinen Müntefering, um den Genossen den geplanten Privatisierungskurs zu erklären. Ihr Leitantrag ist daher schon Wochen vor dem Parteitag Makulatur

„Keiner hat ernsthaft daran gedacht, diesen Leitantrag zu verabschieden“

von STEFAN ALBERTI

Auf knapp 3.000 Meter ortet eine Sprecherin Peter Strieder in diesen Tagen, beim Skifahren in den Tiroler Alpen. Ein Absturz droht dem SPD-Landeschef aber nicht dort, sondern in den Niederungen Berlins. Vier Wochen vor dem Landesparteitag der Sozialdemokraten ist der Leitantrag, von Strieders Parteispitze im Februar beschlossen, so gut wie gescheitert. Die Mehrheit der zwölf Kreisverbände kritisiert den geplanten Kurs zu mehr Privatisierung sowie weniger Staat und hat ihn teilweise komplett durch eigene Papiere ersetzt wie in Spandau. „Keiner hat ernsthaft auch nur daran gedacht, diesen Leitantrag zu verabschieden“, sagt dort Kreischef Swen Schulz.

Nicht ganz 1.000 Kilometer von den Tiroler Höhen entfernt fehlt Strieder das, was Gerhard Schröder auf Bundesebene in Franz Müntefering hat, dem Fraktionschef und Exgeneralsekretär: einer fürs Herz der Partei, der den neuen Kurs ins Sozialdemokratische übersetzen könnte. „Den haben wir nicht“, sagt der Mann, der jetzt retten soll, was noch zu retten ist: Andreas Matthae, 34 Jahre, Parteivize, nach seiner Niederlage bei der Bundestagswahl vorübergehend abgetaucht. Einer, der von sich sagt, er sei aus dem Vorstand am nächsten an der Parteibasis dran.

Matthae erzählt davon, während er vor einem Café am Gendarmenmarkt sitzt. Ist es Klischeedenken, das einen denken lässt: Mensch, einen Sozi müsste man eher beim Bier in der Eckkneipe treffen? Matthae grinst ein bisschen. Natürlich sei das ein Klischee, aber trotzdem nicht falsch. In der SPD habe man zwar nichts mehr dagegen, wenn einer viel Geld verdiene – „nur richtig zeigen darf man es nicht“.

Von Selbstfindung im 19.000-Mitglieder-Landesverband spricht Matthae von breiter Verunsicherung, die sich in der Debatte über den Leitantrag kanalisiere. Dass parallel die Diskussion um Schröders Agenda 2010 läuft und in Berlin beim Sonderparteitag am 1. Juni ihren Gipfel erreicht, hat die Debatte nicht unbedingt gebremst. Herz und Seele der Partei sind verletzt, sagt ein intimer Kenner der Berliner SPD. In den acht Seiten des Antrags steht nur einmal „solidarisch“, dafür tauchen gleich mehrere Reizworte auf – „Kampfbegriffe“ nennt sie Matthae. Als da wären: „Staatliche Bevormundung“ „Rechtliche Überregulierung“ und vor allem: „Die Staatsquote ist zu hoch.“

Das löst an der Basis Beißreflexe aus. Was auch an der federführenden Autorin liegt. Parteivize Annette Fugmann-Heesing hat die zwölfköpfige Arbeitsgruppe geleitet, die den Antrag schrieb. Für Parteilinke ist sie, die schon in den 90ern als Finanzsenatorin auf Privatisierung setzte, ohnehin die Hassfigur Nummer 1. Das Netteste, was über sie zu hören ist, ist Respekt vor ihrer unbeirrbaren Haltung – damit unterscheide sie sich vom opportunistischen Parteichef Strieder.

Im Kurt-Schumacher-Haus, der SPD-Landeszentrale im Wedding, mühen sich Strieders PR-Leute, die Aufregung klein zu kochen. Für sie Business as usual. Kritik von allen Seiten ist eine Konstante in der Karriere des Landeschefs, jedoch ohne dass ihn die Genossen jemals wirklich kippen wollten. 71 Prozent bei seiner Wiederwahl 2002 war kein gutes Ergebnis, aber auch kein Abstrafen. Kaum einer geht davon aus, dass Strieder wegen des Leitantrags tatsächlich hinschmeißen wird. Tenor: Zu viele Schlappen hat er weggesteckt, um deswegen abzudanken. Konkrete neue Anzeichen hat auch Hans-Georg Lorenz nicht ausgemacht, der sich als Notnagel für den Vorsitz anbietet.

SPD-Sprecher Hannes Hönemann weiß natürlich, dass sich die alte Fußballweisheit „Angriff ist die beste Verteidigung“ auch für die Politik nutzen lässt. Es sei doch positiv zu bewerten, dass die Partei derart engagiert über den Leitantrag diskutiere. Offen lässt er, wie weit sich das Ergebnis von der Haltung des Vorstands entfernen darf, um ihn nicht zu schwächen.

Über 100 Seiten dick ist ein Ordner mit Änderungsanträgen, der bei Hönemann steht, angeblich so dick wie noch bei keinem Leitantrag. Bereits im Titel macht die Reinickendorfer SPD ihren Punkt klar; „Berlin solidarisch erneuern“ steht da statt schlicht „Berlin erneuern“, der Überschrift des Leitantrags. Matthae soll mit den Antragstellern und Fugmann-Heesing einen Kompromiss finden. Der Leitantrag in seiner ursprünglichen Form ist bereits vom Tisch. „Wäre der beim Parteitag Grundlage der Debatte, wäre er weggestimmt worden“, sagt Matthae. Zu umstritten sind Privatisierung und Finanzen der Bezirke.

Doch wie soll sich ein Kompromiss finden lassen zwischen Formulierungen wie „städtisches Wohneigentum in diesem Umfang brauchen wir nicht mehr“ und der vom Parteilinken Lorenz formulierten Spandauer Haltung, keine der städtischen Wohnungsbaugesellschaften aus der Hand zu geben?

Gleiches gilt für den Ansatz des Leitantrags, sich offen für den Verkauf von Verkehrsbetrieben und Stadtreinigung zu zeigen. Das Café Soziale am Comeniusplatz in Friedrichshain, Treffpunkt von sechs jüngeren SPDlern aus mehreren Bezirken, hat einem Antrag, der einen solchen Verkauf klar ablehnt, den Namen gegeben. „Café Soziale“, von mehreren Kreisverbänden unterstützt, spricht sich zwar für mehr Zusammenarbeit mit freien Trägern bei Kultur und Jugend aus. Eine Privatisierung von öffentlichen Unternehmen der Daseinsvorsorge – und das sind im Kern nur noch BVG und BSR – wird ausgeschlossen.

Beim Milchkaffee am Gendarmenmarkt weiß auch Vermittler Matthae, dass sich kein kompletter Kompromiss finden wird. Bei Fragen wie Privatisierung, Kernaufgaben des Staates und mögliche niedrigerer Staatsquote werde es zu Kampfabstimmungen kommen: „Da muss die Partei sagen: hü oder hott.“

Solch ein klares Wort erwartet sich in diesen Tagen auch mancher von dem Mann, der knapp zehn Minuten weiter im Roten Rathaus arbeitet. Doch Klaus Wowereit bleibt in der aktuellen öffentlichen Debatte still. Parteisprecher Hönemann und Senatssprecher Michael Donnermeyer versichern, der Regierende Bürgermeister unterstütze die Linie des Landesvorstands und habe sich im Kreisverband Tempelhof-Schöneberg geäußert. Insofern bestehe gar keine Notwendigkeit zu einer Stellungnahme.

Was sie nicht sagen und was erst jetzt durchsickerte: Wowereit hat sich bei den Genossen im Rathaus Schöneberg vor knapp zwei Wochen abfällig über den Leitantrag, der ihm offenbar nicht weit genug geht, und die Kritik daran geäußert. Es muss heftig gewesen sein, denn Mechthild Rawert, Chefin der Berliner SPD-Frauen, mag die genaue Wortwahl nicht wiedergeben, beschreibt sie mit „despektierlich“. Wowereit habe zum Ausdruck gebracht, „dass er Leitantrag und Café Soziale schlecht findet“, bestätigt der Abgeordnete Frank Zimmermann.

Das macht es nicht leichter für Parteivize Matthae, der bis Ende April einen Kompromiss präsentieren will. Was drei Wochen später beschlossen wird, hat für einen der kritischen Kreischefs sowieso wenig Gewicht: Selbst wenn der Parteitag den Privatisierungskurs klar ablehne: Unter dem Druck der Finanzmisere würde der Senat diesen Kurs trotzdem fahren. Kommt es dazu, hilft auch kein Müntefering mehr – das könnte auch er der Basis nicht mehr erklären.