Idol mit dickem Hals

Timo Boll versteht die Welt nicht mehr – das eigene Publikum pfeift den Weltklassemann aus. Der Deutsche profitierte in Berlin von einer Wechselorgie des Gegners, dessen Schlägerbelag zu dick war

AUS BERLIN JOHANNES KOPP

Etwas bis dahin völlig Unvorstellbares geschah: Einige aus dem Publikum im Berliner Velodrom pfiffen schrill, als Timo Boll zum Viertelfinale bei den Tischtennis German Open antrat. Boll, der als nationale Galionsfigur des Zelluloidsports bislang nur das Gefühl der Verehrung und Bewunderung kannte, griff der Sympathieverfall mehr an, als es jede unnötige Niederlage vermocht hätte. „Wenn man ausgepfiffen wird, dann hört der Spaß auf“, sagte der nach seinem glatten 4:0-Sieg gegen den Japaner Kaii Yoshida sehr unglücklich Dreinschauende.

Boll bemühte sich zwar um Gelassenheit („Im Innern weiß ich, dass ich die Pfiffe nicht verdient habe.“), aber sein Missmut überwog („Ich habe so einen dicken Hals.“). Die Pfiffe aus dem Publikum sind schnell erklärt. Boll verlor seine Achtelfinalpartie gegen den Rumänen Adrian Crisan 3:4, wurde aber nach geraumer Zeit zum Sieger erklärt. Eine Nachprüfung, so hieß es, hätte ergeben, dass der Belag von Chrisans Schläger zu dick gewesen sei. Einige Zuschauer argwöhnten nun, die Organisatoren wollten Boll notfalls auch auf unlautere Weise im Turnier halten.

Das Misstrauen gegenüber den Veranstaltern war nicht unberechtigt, die wahre Geschichte hatte aber einige Kuriositäten mehr zu bieten. Tischtenniskabarett von großer Güte bei einem der vier sogenannten Major Events des Internationalen Tischtennisverbands. Boll erzählte, der Schläger von Chrisan wäre bereits vor der Partie als zu dick befunden worden. In seinem Beisein hätte ein Kontrolleur Chrisan geraten: „Ein bisschen drücken, vielleicht wird er dann dünner.“ Das von Offiziellen begleitete Heranwalzen an den Grenzwert von 4 Millimetern half jedoch nichts. Der Schläger fiel auch durch einen zweiten Test knapp (0,08 Millimeter zu viel) durch. Ohne Ersatz angereist, reichte der Rumäne mit Erfolg einen Kollegenschläger ein. Ein anderes Firmenfabrikat allerdings. Der Hersteller seines Spielgeräts untersagte Chrisan die Fortsetzung des Turniers. So teilte dieser Boll und den Veranstaltern mit, dass er das Spiel nach einem Ballwechsel mit seinem Schläger herschenken würde.

Von der Angst erfasst, dass ein derartiges kampfloses Weiterkommen von Boll gar nicht gut beim Publikum ankommen würde, schaute ein Offizieller noch einmal auf den Testbericht und sagte erleichtert, es wäre doch alles in Ordnung. Das Papier bezog sich jedoch auf den Kollegenschläger. Chrisan glaubte an die Kulanz der Organisatoren und spielte mit dem aufgeblähten Modell.

Zum Ärger von Boll hatten sich die Schiedsrichter das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Erst im Verlauf der Partie fiel ihnen auf, dass Chrisan gar nicht mit dem von ihnen als zulässig erklärten Schläger agierte und gewann. Sie ließen das benutzte Spielgerät nun ein drittes Mal überprüfen. Timo Boll war indes mächtig verärgert ins Hotel abgebraust. Von seiner Abreise aus Berlin konnte er über die Rezeption gerade noch abgehalten werden. Nun spielte er am Sonntag gegen Cheung Yuk aus Hongkong und gewann 4:0. In Abwesenheit der chinesischen Weltklassespieler erreichte er das Finale.

Unabhängig vom sportlichen Ergebnis muss Boll eine bittere Turnierbilanz ziehen. Er beklagte bereits am Samstag einen persönlichen („Ich bin derjenige, der jetzt am dümmsten dasteht.“) und einen kollektiven Imageverlust („Das war blöd für unsere Sportart.“). Der Ärger um die Belagdicke berührt ein grundsätzliches Problem, das dem Internationalen Tischtennisverband derzeit zu schaffen macht. Seit Ende der Olympischen Spiele ist nämlich eine neue Regel in Kraft getreten. Das sogenannte Frischkleben kurz vor dem Spiel, das den Belag elastischer und die Bälle dadurch schneller gemacht hat, ist verboten. Grund: die gesundheitsschädlichen Ausdünstungen der Klebstoffe.

Die ganze Tischtenniselite experimentiert seitdem verzweifelt mit den verschiedensten Belägen. Manchen fällt es schwer, die Finger vom Frischkleber zu lassen. Womöglich war auch Adrian Chrisans Schläger am Samstag getunt und dadurch zu dick geraten. Bislang hat sich Timo Boll eigentlich als Reformgewinnler gesehen. Er sagt, er habe sich frühzeitig auf die Veränderung eingestellt. Die positiven Ergebnisse der vergangenen Wochen hingen vielleicht auch damit zusammen. Gefeiert wurde insbesondere seine historische Meisterleistung im Oktober in Sankt Petersburg, wo er seine drei Europameistertitel (Einzel, Doppel, Mannschaft) allesamt verteidigte. Vor ihm gelang das noch keinem.

Nun genügte am Wochenende eine kleine Winzigkeit, um die heile Tischtenniswelt des Timo Bolls ins Wanken zu bringen. Ihm blieb nur die Hoffnung: „Vielleicht ist das bald vergessen.“