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: Als die Utopie lebte: Annett Gröschners Buch über das Kernkraftwerk in Rheinsberg

Wer heute von Berlin aus einen Ausflug nach Rheinsberg plant, der hat vor allem das wunderschöne Rokoko-Schloss im Kopf, den dazugehörigen Park und Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Dass ausgerechnet im idyllischen Rheinsberg das erste Kernkraftwerk der DDR stand – ein Kernkraftwerk, das 1966 ans Netz ging und erst 1992 abgeschaltet wurde – ist den meisten nicht präsent. Umso schöner, dass man jetzt begeisterten Ausflüglern noch pünktlich zum Auftakt der Frühlings-Saison das Buch „Erinnerungen an eine strahlende Zukunft“ von Annett Gröschner schenken kann.

Die Berliner Schriftstellerin war 1999 Stadtschreiberin von Rheinsberg. In der besten Tradition der Dokumentarliteratur, wie man sie von Erika Runges „Bottropper Protokollen“ kennt oder auch von Alexander Kluge oder Walter Kempowski, lässt Annett Gröschner Zeitzeugen, Archivmaterial und weitere Quellen weitgehend für sich sprechen. Die Kommentierung ergibt sich aus der Anordnung und den wechselseitigen Bezügen, die ein Gitter schaffen, das der Phantasie des Lesers kaum Grenzen setzt. Die zahlreichen Fotos aus den Archiven, aber auch die phantastischen Porträts von Arwed Messmer, der viele der Befragten einfach stoisch in die Kamera hat blicken lassen, tun das Ihre dazu.

Nach und nach erst, beim wiederholten Blättern, kristallisieren sich einzelne Charaktere wie „die Konstrukteurin“ oder „die Chefsekretärin“ heraus und zugleich das Besondere ihrer Geschichte: Das Kernkraftwerk Rheinsberg war kein x-beliebiger Industriebetrieb in der DDR, Rheinsberg war ein utopischer Ort, an dem anfangs eine enorme Aufbruchstimmung herrschte und an dem man heute viele abgewickelte Biografien ausgraben kann, die jetzt nur noch wehmütig auf ihre „strahlende Zukunft“ zurückblicken können.

Es ist absolut mit- und hinreißend, wie sich einige der ehemaligen Angestellten an den Enthusiasmus erinnern, mit dem sie in den späten Fünfziger- und den frühen Sechzigerjahren ihr neues Leben im Kernkraftwerk angingen. Die Wohnviertel, die für die Arbeiter extra aus dem Boden gestampft wurden, entsprachen den höchsten Standards der Zeit. Außerdem wurde ein Kulturgebäude errichtet für Hochzeiten, Betriebsfeste, Konzerte, Kino und Karneval, wovon noch heute alle begeistert schwärmen. Die Arbeiter des Kernkraftwerks müssen sich gefühlt haben wie eine verschworene, privilegierte Gemeinschaft: „Wir waren alle Anfang 20. Alle waren neu, keiner hatte Verwandte, Eltern oder Mütter, die weder reingeredet noch geholfen haben“, berichtet einmal die Konstrukteurin – und dass in dieser Zeit fast alle Angestellten des Kernkraftwerks gleichzeitig Kinder bekommen haben.

Besonders an den Stellen, wo es nicht nur um einen Betrieb geht, der als Projektionsfläche für große Hoffnungen taugte, sondern um den Umgang mit der Gefahr, die von einem Atomkraftwerk nun mal ausgeht, ist die Montagetechnik, die Annett Gröschner in ihrem Buch anwendet, mehr als hilfreich. Der Zusammenprall der Sprache der Partei, die mit dem Kernkraftwerk international Werbung zu machen hoffte, und privaten Erinnerungen einzelner Arbeiter, die vom praktizierten Dilettantismus erzählen, ist manchmal kurios: Wie sie entgegen aller Propaganda daran festhalten, dass die Arbeitsorganisation schlecht war, dass bis in die Siebzigerjahre hinein die Sicherheitsvorkehrungen genauso mangelhaft waren wie die Informationspolitik, dass es eine Zeitlang en vogue war, Silvester im 18 Grad warmen Auslaufkanal zu baden und dass viele erst Angst bekamen, als Tschernobyl passierte.

Das Ende von „Erinnerungen an eine strahlende Zukunft“ liest sich naturgemäß traurig. So sinnvoll es war, ein klappriges Kernkraftwerk wie Rheinsberg abzuschalten – die Depression, die sich nach dem Wegfall des größten Arbeitgebers über Rheinsberg legte, ist bis heute nicht bezwungen: Die Einwohnerzahl sinkt und die Stadt überaltert immer mehr. Viele der ehemaligen Angestellten wissen nicht mehr, was tun. Und wieder ist es die Konstrukteurin, die am Ende für den schönsten Satz im ganzen Buch gesorgt hat: „Wir waren Teil einer Utopie, aber manchmal haben Utopien eben eine kurze Halbwertszeit.“

SUSANNE MESSMER

Annett Gröschner (Text), Arwed Messmer (Bild), „Kontrakt 903. Erinnerungen an eine strahlende Zukunft“. Kontext Verlag, Berlin 2003, 192 S., 22 €