Der entmündigte Patient

Die Felix Burda Stiftung wirbt unermüdlich für die Früherkennung von Darmkrebs. Was sie verschweigt: Die Vorsorge kann manchen Menschen mehr schaden als nutzen

Ärzteverbände und Industrieunternehmen, die an Tests verdienen, setzen die Patienten unter Druck

Für die Galashow „Stars mit Mut“ (Freitag, 20.15 Uhr, ARD) wird seit Wochen mit viel Tamtam und Trara geworben. So posaunt die Programmzeitschrift TV Hören und Sehen auf dem Titelblatt: „Krebs, den niemand bekommen muss. Neue Frühdiagnosen schützen zu 100 Prozent.“ Was dann im Heftinneren unter der Rubrik „Forschung“ über Krebsvorsorge verbraten wird, ist ein wüstes Sammelsurium aus Halb- und Unwahrheiten, getragen von der simplen Idee „Viel hilft viel“.

Immerhin: Damit ist die Botschaft von „Stars mit Mut“ treffend vorweggenommen. „Darmkrebs lässt sich mit Vorsorge verhindern“, sagt Christa Maar, die Vorsitzende der Felix Burda Stiftung und Initiatorin des Abends. „Alle 30.000 Darmkrebstoten“, so Maar, „hätten gerettet werden können.“ Vor der Aufzeichnung der Show verstieg sich Frank Elstner, der als Moderator durch den Abend führt, folgerichtig zu der Behauptung: „Jeder, der die Vorsorge nicht wahrnimmt, ist blöd.“

Was während der gesamten Show mit keiner Silbe erwähnt wird: Die Aussichten der Krebsvorsorge sind nicht ungetrübt. Wenn man Früherkennung aus der Sicht des einzelnen Patienten betrachtet – und um den geht es ja schließlich –, ist die Bilanz der beiden in Deutschland von den Kassen bezahlten Verfahren zur Darmkrebsfrüherkennung, dem Test auf verborgenes Blut im Stuhl und der Darmspiegelung, keineswegs so glänzend, wie es die Show glauben machen will.

Zum Stuhltest: Wer jahrelang regelmäßig seinen Kot untersuchen lässt, kann sein statistisches Risiko verringern, an Darmkrebs zu sterben. Im Alter zwischen 50 und 80 erliegen etwa 7 von 1.000 Deutschen innerhalb eines Jahrzehnts dem Tumor. Wenn alle 1.000 zum Test gehen, sterben – unter optimistischen Annahmen – immer noch 4 von 1.000. Für die 3, die einige Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre an Lebenszeit gewinnen, wäre die Vorsorge ein enormer Gewinn, ohne Zweifel. Doch von den restlichen 997 bezahlen etliche die Teilnahme an der Früherkennung mit Schäden: Dass Fehlalarme häufig sind, mag man noch hinnehmen. Schwerer wiegt schon, dass einige beim Entfernen harmloser Darmpolypen, die sich nur in Ausnahmefällen zu einem Tumor weiterentwickelt hätten, ernsthaft verletzt werden.

Zudem wird oft nicht bedacht, dass Früherkennung auch Tumoren endeckt, die letztlich doch unheilbar sind. Dann wird nicht die Lebens-, sondern nur die Leidenszeit verlängert. Besonders hart trifft es Teilnehmer, bei denen ein Krebs gefunden wird, der, wenn man nicht nach ihm gesucht hätte, nie zu einem Problem geworden wäre, weil er sehr langsam wächst. Früherkennung erschafft Krebsdiagnosen, die es ohne sie nie gegeben hätte.

Selbst Früherkennungsbefürworter sehen durchaus die Schwächen des Tests. Da etwa bei einer einmaligen Analyse nur jeder vierte Tumor entdeckt wird, hält beispielsweise Darmkrebsexperte David A. Lieberman von der US-Universität in Portland, der selbst an Studien federführend beteiligt war, den Stuhltest für „keinen effektiven Krebserkennungstest“ und attestiert ihm deshalb „begrenzte Effektivität in der Krebsvermeidung“. Unter dem Strich allerdings hält die US-Task Force, ein maßgebliches Expertengremium, das Richtlinien zum Thema Screenen erarbeitet, den Stuhltest für „sehr empfehlenswert“, wenn er regelmäßig angewandt wird.

Zur Darmspiegelung: Dass die Koloskopie, ein seit Oktober als Kassenleistung angebotenes Verfahren, langfristig die Zahl der Todesfälle reduziert, ist zwar durchaus plausibel, aber nicht erwiesen. Deshalb verhalten sich die US Task Force und ein weiteres Fachgremium aus den USA in ihren neuesten Bewertungen abwartend und empfehlen die Darmspiegelung nur für Gruppen mit besonders hohem Risiko, also vor allem für Menschen, die bereits Verwandte durch Darmkrebs verloren haben.

Der Grund für die Zurückhaltung: Die Darmspiegelung ist zwar vermutlich treffsicherer als der Stuhltest in der Entdeckung von Krebsherden, aber sie trägt auch ein höheres Risikopotenzial.

Bisherige Erfahrungen zeigen, dass bei durchschnittlich 1.000 Darmspiegelungen in einem Fall die Darmwand mit dem langen Endoskop durchstoßen wird. Ernsthafte Blutungen beim Abtrennen von Polypen treten bei der Behandlung von 1.000 Patienten sogar 5- bis 10-mal auf. Ob diese immer noch relativ guten Studienergebnisse auf die Früherkennung unter Alltagsbedingungen übertragbar sind, ist offen. So kommt die US Task Force zu dem Schluss: „Wir brauchen bessere Daten über die Komplikationsraten in der realen Welt.“

Damit kein Missverständnis aufkommt: Wir wollen niemandem von der Darmkrebsfrüherkennung abraten – und schon gar nicht Menschen, deren Eltern, Geschwister oder Kinder an Darmkrebs erkrankt sind, und die deshalb ein erhöhtes Risiko tragen. Gerade beim Darmkrebs sind die Chancen auf eine sinnvolle Früherkennung so groß wie bei keinem anderen Tumor. Doch wo Schaden und Nutzen von jedem Einzelnen nach seinen eigenen Prioritäten abgewogen werden müssen, sind Kampagnen und Ereignisse wie die „Stars mit Mut“, die einen möglichen Schaden völlig ausblenden und einen ebenfalls nur möglichen Nutzen als erwiesene Tatsache darstellen, fehl am Platz. Ein besonders krasses Beispiel: In der Show wirbt ein Mitarbeiter der Firma Siemens für die von der US Task Force nicht empfohlene „virtuelle Darmspiegelung“ mit Hilfe eines Computertomographen – der Marke Siemens versteht sich.

Nichts gegen Jörg Berger, aber die Diagnose Krebs macht einen Trainer nicht zum Tumorspezialisten

„Selbstverständlich“, heißt es dennoch in einer Ankündigung der Show, „kommt die Information über Früherkennung in der neuen Sendung nicht zu kurz. So hat Moderator Frank Elstner interessante Gesprächspartner zu Gast, die selbst mit der Diagnose Krebs konfrontiert waren – darunter Prominente wie Fußballtrainer Jörg Berger.“ Nichts gegen Jörg Berger, aber allein die Diagnose Krebs macht einen Fußballtrainer noch nicht zum Tumorspezialisten. „Informieren“ wird in der Show zu „überreden“ umdefiniert. Der „mündige Patient“ bleibt auf der Strecke.

Das ist gerade in Deutschland leider die Regel. Ob für die Früherkennung von Prostata-, Brust-, Gebärmutterhals- oder Hautkrebs: Ärzteverbände, Medien, Privatpersonen, Volkshochschulen, Politiker, Krankenkassen, Vereine wie die Krebshilfe und natürlich Industrieunternehmen, die an Tests, Diagnosegeräten und Therapien verdienen, setzen die Patienten unter Druck. Und der kann massiv sein, etwa wenn Politker vorschlagen, Vorsorgemuffel mit höheren Beiträgen zu bestrafen, oder wenn der als Kapazität bekannte Pathologe Manfred Stolte öffentlich sagt: „Jeder, der eines Tages an einem fortgeschrittenen Krebs im Dick- und Enddarm erkrankt, sollte sich heute schon schämen!“ Wer Krebs hat, so Stoltes verwegenes Credo, ist selber schuld. Diese Haltung passt in einen Zeitgeist, der Kranken zunehmend die Solidarität entzieht und in dem sich die Medizin in alle Bereiche des Lebens drängt: Gesund ist nicht der, der sich gesund fühlt, sondern nur der, der sich gerade hat checken lassen.

CHRISTIAN WEYMAYR
KLAUS KOCH