VOR EINEM JAHR IST LE PEN GESCHEITERT, ABER NICHT SEIN PROGRAMM
: Rechtsruck in Frankreich

Fast ein Jahr ist es her. Am 21. April 2002 erhielt Jean-Marie Le Pen, Führer der Front National, bei den Präsidentschaftswahlen mehr Stimmen als der Sozialist Lionel Jospin. Er war der erste Rechtsextreme, der in die Stichwahl um das höchste Amt des Landes vorrückte und es damit schaffte, fast alle Franzosen hinter einem konservativen Präsidenten zu vereinigen.

Die Franzosen reagierten zuerst schockiert auf das Wahlergebnis. Dann aber engagierten sie sich über sämtliche politische Lagergrenzen gegen Le Pen. Zwei Wochen lang agitierten alle großen Medien gegen die Rechtsextremen, und Millionen von jungen Menschen schworen auf der Straße, dass sie nie wieder politisch untätig sein würden. Sämtliche staatstragenden Organisationen – von Kirchen und Moscheen über die Unternehmerverbände und Gewerkschaften, bis hin zu den linken Parteien – riefen zur „Rettung der Republik“ auf und zur Wahl des Kandidaten Jacques Chirac.

Am 5. Mai, in der Stichwahl, triumphierte der Neogaullist, der im ersten Durchgang noch schwach abgeschnitten hatte, wie keiner seiner Amtsvorgänger: Er wurde als Präsident mit 82 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Ein paar Wochen später holten Chiracs politische Freunde auch die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen.

Die Jugendbewegung und ihr „republikanischer Elan“ sackten umgehend in sich zusammen. Auch die Front National und ihr Führer, die Frankreich in Angst und Schrecken versetzt hatten, verschwanden nach der Stichwahl aus dem Rampenlicht. Doch wesentliche Teile des Programms der Rechtsextremen sind geblieben – und offizielle Politik in Frankreich geworden: von den harten neuen Sicherheits- und Polizeigesetzen des Innenministers über ein Bauprogramm für neue Gefängnisse und geschlossene Jugenderziehungsanstalten über die Einführung regelmäßiger Abschiebecharterflüge bis hin zur Beschneidung der staatlichen Rentenversorgung und der Senkung der Spitzensteuern.

Seit dem Psychodrama des 21. April haben Chirac und seine Gefolgsleute freie Hand im Land. Sie haben ihre Mehrheit dazu genutzt, zunächst in jenen Bereichen, in denen die Front National programmatisch stark war, Zeichen zu setzen. Dass sich die Lage der inneren Sicherheit deshalb tatsächlich verbessert hat, darf man bezweifeln. Aber die Unterstützung einer Mehrheit der Franzosen für diese Politik ist offensichtlich.

Dazu trägt einerseits eine intelligente Kommunikation der rechten Regierung bei, die bei Kritik an der Law-and-Order-Politik stets mit der „Botschaft des 21. April“ argumentiert. Andererseits kam den Rechten die Zuspitzung in der internationalen Politik zugute. Mit seinem Eintreten gegen die amerikanische Invasion in den Irak hat Chirac beinahe ungeteilte Zustimmung erhalten, die alle anderen Themen vergessen machte. Zudem hilft ihm die Abwesenheit jeglicher Oppositionspolitik im gegenwärtigen Frankreich. Das liegt nicht nur daran, dass die Zahl der Abgeordneten der rot-rosa-grünen Linken radikal geschrumpft ist, sondern auch daran, dass ihre Parteien bis heute nicht die Lehren aus dem 21. April gezogen haben. Sozialdemokraten, Kommunisten und Grüne haben lediglich einige ihrer Spitzenfiguren aus der rot-rosa-grünen Regierungszeit ausgetauscht.

Dabei ist der 21. April 2002 nicht nur das Datum eines Wahlerfolgs der Rechtsextremen. Es ist auch das Datum einer massiven Wahlniederlage der französischen Linken. An jenem Wahlsonntag haben zwar viele Franzosen rechtsextrem gewählt, aber ihre absolute Zahl war nicht höher als früher. Dafür war das Lager der französischen Linkswähler zerstritten und übte sich zu bedeutenden Teilen in Wahlenthaltung. Ein anderer – extrem hoher Teil – gab seine Stimme linksradikalen Parteien, die es bislang nie aus ihren sektiererischen Nischen herausgeschafft hatten.

Diese Botschaft wollen die alten Partner der rot-rosa-grünen Regierung bis heute nicht verstehen. Die Wahl war eine Antwort auf eine linke Regierung, die eine zentristische Politik gemacht hatte. Auch an eine andere zentrale Frage des 21. April haben sich die geschlagenen Parteien der rot-rosa-grünen Linken bis heute nicht herangewagt. Sie lautet: War es richtig, Chiracs Wahl bedingungslos zu unterstützen – und der französischen Rechten so Tür und Tor zu öffnen? DOROTHEA HAHN