Der Gute-Laune-Bär hat frei

Nach dem 1:3 gegen Schalke 04 befindet sich der eklatant abstiegsgefährdete Noch-Vizemeister Bayer Leverkusen nahe an der Selbstaufgabe und ergeht sich in immer neuen Trainerpossen

aus Leverkusen ERIK EGGERS

Die meisten Leverkusener Spieler hatten längst die BayArena verlassen nach dieser 1:3-Heimniederlage gegen den FC Schalke 04, der den Abstiegsplatz 16 für den Werksklub schon beinahe einbetonierte. Sie waren wortlos und kalt in ihre Karossen gestiegen, ohne die wartenden Fans auch nur eines Blickes zu würdigen. Bis Bernd Schneider kam. Nachdem er genervt die kurze Fragerunde der Journalisten abrupt beendet hatte („So, das reicht!“), ließ sich der Nationalspieler vom Ordner das trennende Schiebetor öffnen und stellte sich ungeschützt mitten in den Pulk der verbliebenen Fans.

„Was passiert euch denn, wenn wir absteigen?“, fragte ihn die Vox populi, „oder spielst du etwa weiter in Leverkusen?“ Schneider, dem für diesen Fall ein Angebot aus Dortmund vorliegt, ging darauf nicht ein. Sondern bat die Fans um Unterstützung auch für das kommende Auswärtsspiel in Mönchengladbach. Die Begegnung barg schöne Miniaturen: Wie ein weiblicher Fan aus einem halben Meter Entfernung immer wieder das Gesicht ihres großen Idols musterte. Wie jemand unter allgemeinem Johle in sein Handy sprach: „Ich ruf gleich wieder an, ich quatsche grad mit dem Bernd Schneider.“ Rund 20 Minuten stand der Nationalspieler da, vermittelte Nähe, gab Autogramme und ließ sich bereitwillig fotografieren. Die Szene lieferte das Bild dieses Tages: Bernd Schneider scheint der Einzige in Leverkusen, der überhaupt noch Kontakt zur Außenwelt besitzt.

Alle anderen im Kokon des Noch-Vizemeisters scheinen diesen längst verloren zu haben. Das vermittelten jedenfalls die Aussagen der Verantwortlichen nach dieser Partie, die erneut alle Mankos der Mannschaft manifestierte: fehlender Biss und Zaghaftigkeit im Zweikampf, kein Siegeswillen, verblüffende Harmlosigkeit im gegnerischen Strafraum, mangelnde Entschlossenheit, wie sie sich unter anderem in dem zu späten Herauslaufen Jörg Butts vor dem entscheidenden 1:2 durch Sand äußerte. Vor allem aber ist dieses Team offenbar unfähig, ein Spiel zu drehen; zwei Halbchancen nach dem Rückstand in der 61. Minute sprachen erneut ein deutliche Sprache. Bleibt es bei dieser Unfähigkeit, wird die Mannschaft, deren Fußball vor elf Monaten noch halb Europa verzauberte, unweigerlich absteigen. Nur einer scheint neben Schneider den Willen zu besitzen, sich nicht in dieses Schicksal zu fügen: Lucio. Der Weltmeister stabilisierte in seinem ersten Einsatz nach langer Fußverletzung nicht nur halbwegs die Abwehr, sondern wuchtete auch das Spiel nach vorn. Nur fehlte es noch an der nötigen Spielpraxis und Kondition.

Die panische Verwirrtheit aber, die derzeit den Klub ergriffen hat, dokumentierte vor und nach dem Spiel die Posse um die angeblich kurz bevorstehende Verpflichtung Udo Latteks als Feuerwehrmann. Die ganze Woche über und noch am Sonntag vormittag hatte sich der 68-Jährige gewohnt markig angeboten wie sauer Bier („Wenn ich dahin gehe, dann gibt es nur einen, der das Sagen hat, und das bin ich“), um dann kurz vor Anpfiff, im Interview bei Premiere im Stadion, abzusagen. „Der Udo Lattek hat auf seinem Flug von München nach Köln die Entscheidung getroffen, nicht offiziell für Leverkusen zu arbeiten, auch aus gesundheitlichen Gründen“, kommentierte dies später ein sentimentaler Sportdirektor Jürgen Kohler, „ich bin ja als Halbwaise aufgewachsen, ich wäre froh, ich hätte so einen Vater gehabt.“ Das Lachen des Gute-Laune-Bärs, dem vor zwei Wochen noch der Sieg gegen Hertha zugeschrieben worden war, hatte er diesmal im Keller respektive auf der Spielerbank gelassen. Weil er seine Idee mit Lattek nicht durchsetzen konnte? Angeblich soll Geschäftsführer Reiner Calmund seinen Rücktritt angedroht haben, falls Lattek tatsächlich verpflichtet würde.

Calmund zufolge ist die Trainerdiskussion jedenfalls beendet. „Ich gehe davon aus“, sagte auch Thomas Hörster, „dass ich weiter Trainer bleibe“, trotz der vernichtenden Bilanz von nur vier Punkten aus den letzten sechs Spielen und trotz seiner sachlich richtigen Erkenntnis, dass „wir nach dem Rückstand zusammengebrochen sind“. Im Übrigen gegen einen Gegner, der ungeachtet aller Uefa-Cup-Ambitionen nicht besonders organisiert und motiviert wirkte. Um so seltsamer erschien die psychische Ausgangslage, die Hörster für sein Team nach diesem neuerlichen Offenbarungseid ausgemacht haben wollte: „Wir können nur noch gewinnen in der jetzigen Situation.“

Bayer Leverkusen: Butt - Ojigwe, Lucio (80. Zivkovic), Juan, Placente - Schneider, Ramelow, Bastürk (75. Schoof), Babic (46. Bierofka) - Neuville, BerbatowSchalke 04: Rost - Hajto, Waldoch, van Kerckhoven - Vermant, Kmetsch (48. Oude Kamphuis) - Pinto, Varela (60. Möller), Böhme - Agali (77. Asamoah), Sand Zuschauer: 22.500; Tore: 1:0 Berbatow (9.), 1:1 Böhme (12.), 1:2 Sand (61.), 1:3 Asamoah (90.)