heute in bremen
: „Die Deutschen waren schlampig“

Mark Terkessidis diskutiert Migration und Bildung in der Arbeitnehmerkammer

taz: Herr Terkessidis, sind Sie gegen Sprachunterricht in den Kitas?

Mark Terkessidis, Migrationsforscher und Publizist: Nein, so etwas habe ich nie behauptet. Mich stört, dass es keine systematische Vorschulbildung in Deutschland gibt…

und dass in Reaktion auf PISA nur, ich zitiere, „hektische Reparaturen im Vorschulbereich“ durchgeführt werden. Wozu ja auch die Spracherwerbs-Maßnahmen zählen müssten…

Das Problem ist, dass die Kindergärten darauf in Deutschland gar nicht eingestellt sind. Schauen Sie doch mal nach Frankreich: Da existiert für Kinder ab etwa einem halben Jahr bis zur Einschulung ein durchgängiges Betreuungssystem. Da ist natürlich der Spracherwerb mit eingebaut.

Aber warum nicht die hektischen Reparaturen als Beginn des Systemwandels werten?

Verändern die denn das System? Stabilisieren sie es nicht viel eher? Um nur ein Beispiel zu nennen: In Nordrhein-Westfalen gab es jetzt die Sprachstandserhebungen. Das sind sehr fragwürdige Tests, die man kurz zuvor schnell zusammengestellt hat, ohne dafür mit den Kitas zu kooperieren und ohne die deutschen Fragen durch Fragen in den jeweiligen Muttersprachen zu flankieren. Es wird also nur nach Defiziten gefragt.

Und das verursacht Stigmatisierungen?

Am Ende führt so etwas zu Stigmatisierungen, weil die Erwartungen am Normkind der 1950er-Jahre ausgerichtet sind. Das müsste nicht sein. Man kann auch damit aufhören, die Vielfalt als ein Übel aufzufassen. Andere Länder haben das getan und geben der individuellen Sprachentwicklung viel Raum, beispielsweise Kanada…

Da war das aber auch ein langwieriger Prozess. Und Kanada hat sich immer als Einwandererland verstanden. Muss man den Deutschen nicht ein wenig Zeit lassen?

Das ist ein blödes Argument. Das höre ich immer wieder. Natürlich ist Deutschland spät dran, das stimmt. Aber die großen Reformen des Bildungssystems haben in Kanada auch erst in den 1970er Jahren begonnen. Nur sind sie nicht auf die gleichen konservativen Widerstände gestoßen, wie in Deutschland die sozialdemokratischen. Die sind ja deshalb auf halbem Weg stecken geblieben.

Dabei gelten die Deutschen doch immer als so besonders gründlich?

Na, also das gilt in diesem Fall bestimmt nicht. Da waren die Deutschen richtig schlampig. BES

Bildung rein – Fremdes raus? Diskussion, Lagerhaus, 19.30 Uhr