Kantoren-Debut im Dom

Tobias Gravenhorst erweist sich als konzeptionell ambitionierter Musiker – dessen Chor noch viel arbeiten muss

Tobias Gravenhorst ist nicht zu beneiden. Als neuer Domkantor hat er es mit großen Mengen vor seinem Amtsantritt zerschlagenen Porzellan zu tun, seine Musik muss er in einem Raum spielen, der optische, aber hoch ambivalente akustische Qualitäten hat. Vorgänger Wolfgang Helbich bemühte sich 30 Jahre lang vergeblich, Schallsegel installieren zu dürfen. Am Sonntag hatte Gravenhorst sein Einstands-Konzert.

Die große Mehrheit des Domchors war erst für Helbichs Verlängerung und dann für einen anderen Nachfolger. Wie also hört er sich nach dem Verlust eines Drittels seiner angestammten SängerInnen an? Er beweist beachtliche Präzision bei den schnellen Fugen des Mozart-Requiems, aber ihm fehlen Soprane, die ein „salva me“ tatsächlich mit Zartheit und Verzweiflung singen. Und Männer, deren „quam olim Abrahae“ von archaisch-prophetischer Inbrunst erfüllt wäre. Allerdings fehlt ihnen ihrerseits ein Dirigent, der ein solches „salva me“ als – nicht liturgische, aber menschlich-existenzielle – Kernaussage des Requiems auch einfordern würde.

Gravenhorst zeigt sich eher als kapellmeisterlicher Taktierer, denn als Chorleiter, der vokale Linien formt und Klangbögen spannt. Programmatisch jedoch hat er klare Vorstellungen: Mitten im „Lacrimosa“ bricht er ab –wie weiland der über dem Requiem verstorbene Mozart – und fügt Igor Stravinskys 1966 entstandene „Requiem Canticles“ mit ihren filigranen, ebenfalls sehr „offen“ endenden Klangstrukturen ein. Ein gerechtfertigter Mut zum Fragment: Die kompositorische „Abrundung“ des Requiem-Torsos durch Franz Xaver Süßmaier ist zwar sehr beliebt, aber keineswegs zwingend. Bedauerlich nur, dass sich Gravenhorst offenbar genötigt sah, den ausführliche Stravinsky-Insert ausführlich zu begründen: Mit beispielhaften Musik-Häppchen lädt er zur Vorverkostung ein – und unterschätzt dabei, wie wenig Strawinsky als didaktisch Geschnetzeltes Wirkung entfalten kann.

Die Bremer Philharmoniker trudeln etwas hilflos im Dom-typischen Klangbrei, umso sicherer die Solisten: Mit Harry von der Kamp als Bass etwa demonstriert Gravenhorst eine Kontinuität, die in der Dom-Musik rar geworden ist. Vorläufiges Fazit: ein konzeptionell ambitionierter Kantor, der mit seinem Chor noch einen ordentlichen Weg vor sich hat. Hoffentlich geht er ihn. HENNING BLEYL