Marines haben Zweitschlüssel


Es ist offensichtlich nicht so einfach mit dem Übergang zum neuen Rechtsstaat mit den alten Leuten

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

„Das war unsere Bildung und die Zukunft unserer Kinder“, schreit Umm Farah den US-Offizier an. Dabei deutet sie auf das völlig ausgeplünderte und niedergebrannte Bildungsministerium. Mit einem Panzer ist die US-Armee jetzt dort vorgefahren, um das übrig gebliebene Gebäudeskelett zu schützen. „Ihr seid hierher gekommen und habt Bagdad anschließend einfach den Banditen überlassen“, sagt die 60-jährige Beamtin des Ministeriums in exzellentem Englisch.

Umm Farah hat mehrere Jahre in Großbritannien an einem polytechnischen Institut studiert. Während drei seiner Männer Kaugummi kauend an ihrem Panzer lehnen, geht der junge Offizier auf die Frau zu. „Wir haben erst jetzt den Befehl erhalten, den Ort abzusichern. Und was hier geschehen ist, tut mir ehrlich Leid“, antwortet er mit gesenktem Kopf. „Eines Tages wird etwas Ähnliches deinen Kindern, deiner Frau oder deiner Freundin passieren. Und dann werde ich sagen, es tut mir Leid, und ich werde es genauso ehrlich meinen wie du jetzt. Aber was sollen wir damit heute anfangen? Wo warst du vor einer Woche, mein Sohn?“, fährt Umm Farah den Offizier an. Der antwortet nichts mehr, die Frau zieht ihres Weges. „Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße“, sagt der Offizier und erteilt seinen Männern den Befehl, den Ort abzusichern.

Während diese am Tor des Ministeriums den Stacheldraht ausrollen, nehmen nicht weit davon entfernt erstmals die Iraker die ehemals staatlichen Dinge in die eigenen Hände. Beispielsweise Abbas Radi Muslim, seine zwei Brüder und sein Vater. Sie sind mit ihrem Müllauto losgezogen. Statt von einem Gehalt leben sie von den kleinen Zuwendungen, die ihnen alle zustecken – aus Freude, nicht mehr länger im Abfall ersticken zu müssen. „Egal ob amerikanischer oder irakischer Müll, ich mache meine Arbeit“, sagt Radi Muslim trotzig. Für seinen Job würde sich langfristig nicht viel ändern. In einem Irak ohne Saddam Hussein werde es genauso viel Müll geben wie vorher. Schließlich, sagt er, werde der immer noch von genau den gleichen Leuten produziert.

Dass die vier ihr Müllauto noch besitzen, ist nur ihrem mutigen Einsatz zu verdanken. Zweimal hatte jemand versucht, es zu klauen. Müllautos waren in den letzten Tagen unter Plünderern als Gefährt zum versteckten Beutetransport besonders beliebt. „Einmal hat einer mit einer Pistole versucht, das Auto zu rauben, aber wir haben mit zwei Kalaschnikows im Führerhaus übernachtet“, erzählt Radi Muslim. „Das war eine klare Sache“, fügt er hinzu, ohne weitere Details zu nennen.

So blieb das Fahrzeug erhalten, ganz anders als der ausgebrannte Bus ein paar Straßen weiter, auf den jemand geschäftstüchtig gepinselt hat: „Keine Sorge, der Motor ist noch erhalten und steht zum Verkauf.“ Mit den gestohlenen Fahrzeugen, in denen Karosserie und Motor noch in einer Einheit funktionieren, beschäftigt sich Polizeioberst Mahdi Hamadi Mohsen, der vor zwei Tagen seine Uniform wieder aus dem Schrank geholt hat und nun mit einem Dutzend Kollegen den Verkehr am Andalusienplatz regelt. Nur die US-Militärkonvois und Gruppen schiitischer Pilger, die sich zu Fuß auf den Weg ins südliche Kerbela machen, werden durchgewinkt. „Alle sind glücklich, dass wir wieder da sind“, sagt Oberst Mohsen, und tatsächlich winken zahlreiche Autofahrer den Beamten zu und machen aufmunternde Bemerkungen. Es sei gut, dass wieder eine Autorität auf der Straße zu sehen sei, sagt einer von ihnen. Auf die Frage, ob er keine Angst vor neuen Strafzetteln habe, lacht er nur laut.

„Wir bekommen keinen Lohn, aber wir sind zufrieden, dass wir dem Staat wieder dienen können“, erklärt Oberst Mohsen seinen unbezahlten Einsatz. Polizeileutnant Ali Farhan sieht das ganz pragmatisch: „Sollen wir unser Land den Amerikanern überlassen, damit die unsere Leute erschießen?“, fragt er. Er ist ohnehin davon überzeugt, dass die Plünderungen der letzten Tage von der US-Armee gefördert wurden, damit amerikanische Firmen beim Wiederaufbau der zerstörten Institutionen Iraks mehr verdienen können.

„Ali Baba, Ali Baba“, lautet plötzlich die Parole der Polizisten aus einer Ecke der Kreuzung, als sie auf einen Lkw zustürzen, ihn umzingeln und den Fahrer aus der Kabine zerren. Auf der Ladefläche finden sich zwei zerschlissene Sessel und ein wurmzerfressenes Regal. Was folgt, ist eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen dem Fahrer und einem der Polizeioffiziere. Der Fahrer behauptet, diese Dinge gehörten alle ihm. Schließlich gibt der Offizier nach. „Wenn du die Sachen gestohlen hast, dann bring sie zurück“, sagt er nur und zuckt mit den Achseln. „Wie soll ich beweisen, dass die Sachen geklaut sind. Autopapiere kann ich überprüfen, aber alte Sessel?“

Wenn der wüsste. Ein paar Kilometer weiter, in einem schiitischen Armenviertel, stehen Jungs am Straßenrand und winken mit abmontierten Autoschildern. Für umgerechnet 70 Cent kann dort jeder ein gleiches Paar erstehen und für einen weiteren Euro einen abgestempelten Blankofahrzeugbrief zum Selbstausfüllen. Immerhin, einige von ihnen haben Oberst Mohsen und seine uniformierte Truppe bereits festgenommen.

Eine kurze Recherche ergab, dass die Festgenommenen in ein nahe gelegenes „Transfergefängnis“ gebracht werden. Dort waltet inzwischen wieder Kriminalkommissar Alaa Hatem seines Amtes. „Ich habe tagelang die Plünderungen mit ansehen müssen, und ich habe innerlich gekocht“, erzählt er. Als die Amerikaner ehemalige Polizeioffiziere aufgefordert hatten, sich zu melden,war Hatem sofort mit von der Partie. Zunächst wurde das Gefängnis aufgeräumt, dann gab es eine kleine Lektion der US-Marines über veränderte Zeiten und neue Verhörmethoden. „Früher durften wir die Leute immer schlagen, bis sie gestanden haben“, erklärt Hatem. Das ist jetzt alles anders.

Zum Beweis öffnet er die große Gemeinschaftszelle mit den ersten Häftlingen im neuen Irak. Grinsend hält er das strahlend blitzende Vorhängeschloss hoch. „Das ist ein amerikanisches Schloss, und die Marines haben den Zweitschlüssel“, beschreibt er die Verschlusslage. Ansonsten hat der Chef der Marines, Captain Gill, allerdings wenige Instruktionen hinterlassen. Jeder Häftling soll nach 24 Stunden wieder freigelassen werden, führt Hatem das neue Rechtssystem aus. Warum er sich dann überhaupt die Mühe mache, die Leute festzunehmen? „Das ist eben das neue amerikanische System, frag Captain Gill“, antwortet Kommissar Hatem und wiegt den Kopf.

„Früher durften wir die Gefangenen schlagen, bis sie gestanden haben. Das ist jetzt alles anders“

Drinnen kauert eine Gruppe von 20 Männern auf dem Boden und wartet darauf, dass die 24 Stunden vorüber sind. Sie haben Glück, dass sie nur Kurzzeitgefangene sind, denn die Amerikaner und mit ihnen das Essen wurden bereits seit gestern nicht mehr gesehen. „Vielleicht liegt es daran, dass sie gerade ihre Einheiten in Bagdad austauschen und uns vergessen haben“, rätselt Kommissar Hatem.

Es handelt sich bei den Gefangenen nicht gerade um große Fische, warnt er, aber immerhin: „Wenn wir sie alle zusammennehmen, werden sie zu einem großen Fisch.“ Eines der Fischlein in der Zelle ist Abbas Khadem. Er hat Pech gehabt, als er mit einer Kiste Gänse in einer Einbahnstraße in der falschen Richtung auf eine US-Patrouille zufuhr. Die holten ihren Übersetzer, und da half es auch nichts, dass Khadem steif und fest behauptete, das Lebendvieh zuvor bei einer alten Frau erstanden zu haben. Man fragt sich, was passiert wäre, wenn der 22-Jährige mit ein paar geklauten Computern in Fahrtrichtung gefahren wäre.

Ahmed Shahaban, ein anderer Häftling, war früher selbst Polizist. Er wurde bei einem Faustkampf mit seinem Nachbarn aufgegriffen. Der, so erzählt Shahaban offen, wollte sich dafür rächen, dass er ihm einst Handschellen angelegt hatte, um ihn von einem Gefängnis zum andern zu transportieren.

Auch Kommissar Hatem macht sich Sorgen, dass jemand zu ihm nach Hause kommen könnte, um ein paar alte Rechnungen zu begleichen. „Ich habe eine Kalaschnikow zu Hause, und wenn ich bei der Arbeit bin, passt mein Bruder auf meine Familie auf“, erzählt er. Es ist offenbar nicht so einfach mit dem Übergang von absoluter Autorität zu einem Rechtsstaat, und das mit den alten Leuten. „Damals, als wir Fisch aßen, schmeckte er gut, aber heute stinken wir aus dem Mund“, beschreibt das Kommissar Hatem recht anschaulich.

Beim Verlassen des Gefängnisses winkt die alte neue Autoritätsperson noch einmal zum Abschied und grinst ihr langes Grinsen. Das zeigt, dass Hatem die Ironie seiner Situation nur zu gut verstanden hat. „Good luck“, ruft Kriminalkommissar Alaa Hatem. Und voll Stolz: „Das ist Englisch, das hat uns Marine-Captain Gill beigebracht.“