Der Spätzünder

Dean kämpft gegen Krieg, Edwards gegen die heimische Armut. Kerry fehlt es an der unverwechselbaren BotschaftKerry ist ein Kämpfer, der Angriffe der Republikaner mit staatsmännischer Attitüde parieren kann

VON MICHAEL STRECK

Sollte John F. Kerry der 44. Präsident Amerikas werden, wird er sich vielleicht ein Bild von Jim Rassmann ins Oval Office hängen. Zwei Tage vor der ersten Abstimmung zur Kür des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten war Rassmann eigens aus Oregon nach Iowa geflogen, hatte sich während eines Wahlkampfauftritts einen Weg durch die Menge gebahnt und sich Kerry als Veteran der „Special Forces“ in Vietnam vorgestellt. Der knollige Mann erzählte, wie er damals in einem Feuergefecht von seinem Boot geschleudert wurde. Und unter Tränen sagte er dann, dass er Kerry sein Leben verdanke. Selbst verwundet, war dieser zurückgekehrt, um Rassmann aus dem Wasser zu ziehen. Seither hatten sich beide Männer nicht mehr gesehen. Nun liegen sie sich in den Armen. Rechtzeitig für das Blitzlichtgewitter.

Rassmann erzählt dann, wie er, der lange Zeit für die Republikaner gestimmt hatte, zu der Einsicht kam, dass Kerry auch die Rettung für Amerika sei. Deshalb meldete er sich zu Hause freiwillig zum Wahlkampf-Einsatz. Kerry, sichtlich gerührt, reagierte schnell und sagte den Satz, der George W. Bush wohl noch heute ärgert: „Hier im Raum gibt es niemanden, der nicht zurückgegangen wäre, um einen Landsmann zu retten.“ Und meinte: aber da draußen schon – ein Seitenhieb auf den Mann im Weißen Haus, der sich vor Vietnam gedrückt hat.

Die Episode, die überraschend und von keinem PR-Manager besser hätte in Szene gesetzt werden können, war vielleicht der entscheidende Moment in Kerrys Wahlkampf. Er brachte nicht nur einen Popularitässchub, sondern fing wie in einem Brennglas die Metamorphose des Mannes ein, der längst abgeschrieben war und ein fulminantes Comeback erlebte.

Seit den Vorwahlen von Iowa konnte Kerry die Demokraten in 15 von 17 Staaten für sich gewinnen. Eigentlich wollte er jetzt das Rennen um die Präsidentschaftskandidatur für beendet erklären. Doch bei den Vorwahlen in Wisconsin konnte Konkurrent John Edwards nun überraschend gut punkten. So wird sich erst am entscheidenden Super-Tuesday Anfang März herausstellen, ob der Kandidat tatsächlich Kerry heißen wird.

Der 1,90-Meter-Mann mit dem grauen Haarschopf und dem markanten Unterkiefer startete für viele Demokraten als idealer Mann: hoch dekorierter Vietnam-Veteran, dann Sprecher der Antikriegsbewegung, der als 27-Jähriger vor dem US-Senat aussagte und eine damals viel beachtete Rede gegen den Krieg hielt, später anerkannter Senator aus Massachusetts wurde und im Kongress die kontroverse Untersuchung zur Iran-Contra-Affäre leitete. Doch trotz des politischen Rüstzeugs blieb sein Wahlkampf zunächst glanzlos und Polit-Rebell Howard Dean zog davon.

Retrospektiv war es vielleicht weniger sein anfangs ineffektives Wahlkampfteam oder der volle Terminkalender im Kongress, der ihm kaum Ausflüge in die Provinz erlaubte, sondern ein Krebsgeschwür, mit dem er zu kämpfen hatte. Oft wirkte er abgespannt und müde. Doch bereits damals warnten Freund und Feind vor dem zähen Stehaufmann. Vielleicht hat das Bezwingen der Krankheit auch bei ihm zu einem „Lance-Armstrong-Effekt“ geführt und setzt nun einen unbändigen Willen zum Sieg frei.

Kerrys Wandel ist vor allem persönlicher Natur. Die größte Sorge der Parteifreunde waren stets sein steifer, unnahbarer Umgang, sein patrizierhaftes Auftreten und seine gestelzten Sätze, die niemand außerhalb Washingtons verstand. Seine Imageberater verpassten ihm einen Schnellkurs „Bürgernähe“, den er bislang nach Ansicht vieler Beobachter mit guten Noten absolvierte. Wochenlange Besuche in Kleinstadt-Restaurants, Schulen und Nachbarschaftszentren haben ihn „geerdet“.

Angriffslustiger und konfrontativer ist der 60-Jährige auch geworden und kopiert damit immer mehr seinen alten Erzrivalen Dean. Er sei mittlerweile dessen „entkoffeinierte Version“, spottet der Economist. So schmettert er nun von Rednerbühnen, Bush würde „die arroganteste, ungeschickteste, untauglichste und ideologischste Außenpolitik“ betreiben. Immer wieder spielt er dabei seine Vietnam-Karte aus, hofft und glaubt, sie sei sein größter Trumpf in einem Wahlkampf, in dem es mehr als sonst um Krieg, Mut, Führungsstärke und Patriotismus geht. Und da sieht er sich bestens platziert.

Politische Gegner versuchen zwar, ihm aus seiner späteren Antikriegshaltung einen Strick zu drehen. Fraglich, ob das gelingt. „Ich kenne niemanden, der den Vietnamkrieg verteidigt. Seine Opposition könnte sogar ein Plus sein“, glaubt Oberst Dan Smith von der Militärakademie West Point. Wie stark Kerrys Echo letztlich unter Kriegsveteranen ist, bleibt ungewiss, ihr Wahlverhalten ist nur schwer auszuloten. Fest steht, die Antikriegsfraktion unter ihnen ist groß und die Symphatien für Kerry ebenso. Er verkörpert für sie sowohl den tapferen Soldaten als auch den Anwalt jener Geläuterten, die ihre Kriegsorden auf die Stufen des Kapitols warfen.

Kerry nutzt überdies die – wenn auch unzulänglichen – Parallelen des Vietnamkrieges zur Irak-Invasion für seine Angriffe gegen die Bush-Regierung, um unter Militärangehörigen auf Stimmenfang zu gehen. Sie seien die Leidtragenden einer noch viel größeren Desinformationskampagene als die „Golf-von-Tonkin-Lüge“ und Betroffene eines unberechenbaren Guerillakrieges. Charles Pena, Verteidigungsexperte am Cato-Institut in Washington, glaubt, dass der historische Vorteil der Konservativen in der Sicherheitspolitik durch den Kontrast Kerry/Bush neutralisiert werden könnte. „Republikaner konnten sich bislang des Votums von Amerikanern in Uniform sicher sein. Das ist diesmal nicht mehr der Fall.“

Beim Thema Sicherheit und Irak lauern für den erklärten Multilateralisten Kerry jedoch Fallstricke. Seit dem Golfkrieg 1991 hat seine Haltung für mehr Verwirrung als Klarheit gesorgt. Damals stimmte er gegen die Kriegsresolution im Kongress, obwohl Bush senior eine breite internationale Koalition schmiedete und den Segen der UN hatte. Im Herbst 2002 votierte er für den Marsch auf Bagdad, warf Bush junior dann aber vor, unilateral gehandelt zu haben. Später plädierte er für „Nation-Building“ im Irak, lehnte aber das Milliardenpaket zum Wiederaufbau ab. „Zeit für Klarheit“, forderte die Washington Post und Kolumnist George Will listet in „28 Fragen an Kerry“ dessen inkonsequentes Abstimmungsverhalten im Kongress auf.

Ambivalenz ist vielleicht Kerrys Hauptproblem. Auch bei den Themen Homo-Ehe oder Handelspolitik hat er im Senat nicht nur eine liberale, sondern auch widersprüchliche Spur hinterlassen. So befürwortet er die gleichgeschlechtliche „civil union“, die Fast-Ehe, lehnt jedoch die Voll-Ehe ab und stimmte gegen Clintons „Defense of Marriage Act“ – ein Gesetz, das den Bundesstaaten erlaubt, die Homo-Ehe autonom zu regeln. Sein Heimatstaat Massachussetts hatte sie bereits legalisiert.

Auch votierte Kerry für die Nordamerikanische Freihandelszone, wedelt nun aber mit der Fahne des Protektionismus, um US-Jobs zu sichern. Seine neueste Kampfansage gilt den Lobbyisten – eine redliche Position, die er auch von Dean geklaut hat, die aber wenig glaubwürdig ist von einem, der selbst eifrig die Hand aufgehalten hat, wenn auch nicht so oft und lange wie Bush.

Überhaupt fehlt es Kerry an einer unverwechselbaren Botschaft. Anders als Dean, der konsequent gegen den Krieg zu Felde zog und auf Spenden der Wirtschaft verzichtete, oder John Edwards, der „das geteilte Amerika“ anprangert, sich dem Kampf gegen die heimische Armut verschrieben hat, kann Kerry mit keiner originären Idee aufwarten. Und seine Positionen zur Gesundheits- oder Steuerpolitik unterscheiden sich kaum von seinen Kontrahenten.

Das Kerry nun „everybody’s darling“ ist, hat daher einen seltsamen Beigeschmack. Die Leute stimmen für ihn, da sie ihm zutrauen Bush zu schlagen. Nicht weil er ausgezeichnet redet. Das tut Edwards. Oder weil er charismatisch ist. Auch das ist eher Edwards. Oder weil er die Partei aufgerüttelt hat. Das tat Dean. Kerry ist ein Kämpfer, der die Angriffe der Republikaner mit staatsmännischer Attitude parieren kann, wie die letzten Tage bereits gezeigt haben.

Sein starkes Plus heißt zudem internationale Erfahrung. Er ist Diplomatensohn. Doch die persönlichen Kontakte zum alten Kontinent und sein fließendes Französisch mögen vielleicht europäische Herzen erwärmen. In den USA ist dies kein Wahlkampf-Hit. Amerikaner interessiert vor allem, wie er Arbeitsplätze schaffen und das Gesundheitssystem bezahlbar gestalten will. Krieg und Terror sind nach Umfragen nicht mehr die größten Sorgen. So wirft der Wandelbare dem selbst ernannten „Kriegspräsidenten“ Bush nun vor, die Innenpolitik zu vernachlässigen, und bezeichnet sich selbst als zukünftigen „Jobs’ President“. So einfach ist das.

Am Ende, so das Kalkül aller, sind Inhalte ohnehin Nebensache. Amerikaner entscheiden überwiegend anhand des Persönlichkeitsfaktors: Mögen sie den Präsidenten und Kandidaten oder nicht. Hierbei hatte Bush trotz seiner Probleme mit der freien Rede den Bonus, volksnah und eine ehrliche Haut zu sein. Der Glauben an das zweite Attribut wankt. Und Kerry bleiben noch acht Monate, um die Reste seiner nüchternen Aura abzulegen. Außerdem wäre er gut beraten, den charmanten Südstaatler Edwards als Vize ins Boot zu nehmen, wenn er sich einen aussuchen darf. Denn seit Wisconsin scheint das Rennen wieder ein wenig offener. Kerry muss sich nun doch noch zwei Wochen mit Edwards messen – ein Wettbewerb, von dem jedoch alle Beteiligten profitieren. Edwards empfiehlt sich für höhere Weihen. Die Demokraten schärfen ihr Profil. Und Kerry? Läuft erst zur Hochform auf, wie das Time-Magazin feststellte, „wenn er unter Beschuss steht.“