Bau ohne Treppen und Kanten

In Reinickendorf steht das erste DIN-geprüfte barrierefreie Pflegeheim. Es bietet den Bewohnern einen hürdenfreien Alltag. Beim Wohnungsbau denken Architekten nur selten an Rollstuhlfahrer

von CHRISTOPH TITZ

Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck hätte seine Freude gehabt an dem neuen Haus. Schon 1916 gründete er die Stiftung zur Betreuung versehrter und behinderter Menschen. Das verkündet ein Gedenkstein am Sigismudkorso in Frohnau, einem Stadtteil, der mit seinen Villen und den repräsentativen Treppenaufgängen behindertenfeindlicher nicht aussehen könnte. Zwischen den bald hundert Jahre alten Jugendstilvillen liegt ein Neubau, der von der Straße her gesehen eher unscheinbar wirkt, sich aber 100 Meter weit in die Tiefe erstreckt: das Pflegeheim „Haus Friedenshöhe“. Das Gebäude, das seit einem Jahr das alte Haus des evangelischen Pflegedienstes Theodor-Wenzel-Werk ersetzt, ist das erste nach DIN-Norm zertifiziert barrierefreie Haus in Berlin.

Es ist behinderten- und seniorengerecht, hat weder Schwellen noch Stufen, dafür breitere Türen, ausreichend Raum in den Zimmern, mindestens anderthalb Quadratmeter Platz vor Waschbecken, Toiletten und Badewannen und entsprechende Haltegriffe und, wo es möglich ist, Lichtschalter in 85 Zentimeter Höhe. Das Haus passt sich der unebenen Landschaft an, über eine Brücke gelangen die Bewohner des ersten Stocks ohne jede Schwelle in einen kleinen Park auf einem Moränenhügel nebenan. Die Pflegeeinrichtung bietet Platz für 134 SeniorInnen.

Der Entwurf stammt von Klaus Wilhelm Meibohm. Der Architekt hatte bereits zwei Pflegeheime in Sachsen realisiert. Einen persönlichen Bezug zu Behinderung oder Alter hat der 40-Jährige aber nicht. „Ich wollte ein Haus bauen, das den Bewohnern Freude macht und funktioniert“, sagt Meibohm. Die Altersentwicklung in der Gesellschaft mache es nötig, dass Architekten umdächten. „Es geht nicht mehr darum, ein Haus für Menschen zwischen 20 und 50 zu bauen, sondern für alle.“ Stolz ist Meibohm darauf, dass das Gebäude Atrien an Stelle von Fluren hat. „Flure vermitteln immer eine Krankenhausatmosphäre“, sagt der Architekt. Und die Zertifizierung nach DIN-Norm biete noch einen weiteren Vorteil: „Man kann das auch konkret für das Marketing einsetzen.“

Insgesamt sei es um die Barrierefreiheit in Berlin nicht gut bestellt, findet indes Hans-Jürgen Leuthoff, verantwortlich für Behindertenfragen beim Sozialverband Deutschland. Der ist Mitglied im Deutschen Behindertenrat, in dem Leuthoff im Jahr 2002 den Vorsitz führte. Er sieht das Problem zum Teil bei den Bezirken und der Senatsverwaltung, vor allem aber kritisiert er die Ausbildung junger Architekten. Barrierefreies Bauen werde Landschafts- und Gebäudearchitekten nicht beigebracht, dabei müsse es „Pflicht an jeder Universität sein“, fordert Leuthoff. Es sei „beschämend“, dass viele junge Architekten nicht einmal die Normen 18024 und 18025 kennen würden, die definieren, wie barrierefrei gebaut wird. „Die wollen sich alle einen Namen machen, wissen aber nicht, dass eine Aufzugtür 90 Zentimeter breit sein muss“, bemängelte er. Besserung sei nicht in Sicht, der Trend sei „eher gegenläufig“. Dabei nutze barrierefreies Bauen nicht nur Rolstuhlfahrern. „Nimmt man die Menschen mit Kinderwagen, Gipsbeinen oder schweren Lasten hinzu, sind 30 Prozent der Deutschen in ihrer Mobilität eingeschränkt.“

Die Zertifizierung mit einer DIN-Plakette am Eingang ist ein Novum in Berlin. Bundesweit kann sich ansonsten nur noch ein Wohnhaus in Wiesbaden damit schmücken. „Bisher gab es zum Bau von Heimen nur eine Verordnung, die gewisse Standards vorschrieb“, sagt Architekt Meibohm. Die DIN-Normen gingen deutlich weiter und regeln auch das Bauen von Wohnhäusern. „Teilweise sind sie aber unpraktikabel und sollen deshalb durch die Norm 18030 ersetzt werden“, erklärt Meibohm. Die weite die Barrierefreiheit auf alle Behinderungsformen aus. „Die alte Norm ist kaum praktikabel, deshalb steht auch in der Zertifizierung für die ‚Friedenshöhe‘, dass es bei barrierefreiem Bauen immer um Kompromisse geht.“