Unter Hinrennern: Mit Lord Fritz bei Sir Peter

Wir hatten sie alle: Claude Martin, Noel Fahey, José Rodríguez-Spiteri Palazuelo oder Sir Peter Torry. Egal ob der französische, irische, spanische oder britische Botschafter – es ist immer das gleiche Spiel. Werden sie durch das Haus in der Kochstraße geführt, bleiben sie vor dem Schild am Eingang zur Wahrheit stehen und ein Leuchten tritt in ihre Augen: „Aah, hier ist ‚Das Zentrum der Macht‘ .“ Denn so heißt das Wahrheit-Büro, und wahrscheinlich weckt der Name Erinnerungen an Zeiten, als man noch nicht an der Peripherie des Geschehens, im abseitigen Berlin saß.

Süße Träume der Diplomaten. Für die wir ab und zu mit Gegeneinladungen belohnt werden. Wie in der vergangenen Woche, als ein Empfang in der britischen Botschaft stattfand.

Die diplomatische Vertretung Ihrer Majestät ist seit einiger Zeit von hässlichen Betonblöcken umstellt, die allerdings architektonisch hervorragend zu dem erst im Jahr 2000 von der Queen persönlich eröffneten Nutzbau passen, dessen Vorderfront von neckischen silbernen und lilafarbenen Würfeln und Säulen durchbrochen wird. Nach den Autobombenanschlägen von Istanbul wurde die Berliner Wilhelmstraße zwischen Pariser Platz und Behrenstraße vollständig gesperrt. Die weißen Betonquader waren zunächst vor der jüdischen Synagoge in der Oranienburgerstraße platziert, bis sie nach Protesten der Anwohner durch ansehnlichere Schutzmaßnahmen ersetzt wurden. So bleibt zumindest alles in der Familie der Gefährdeten. Sind wir doch hier wegen Vicky, einem Berliner Juden, der als Victor Weisz im Bayerischen Viertel Schönebergs groß und ein bekannter Karikaturist wurde, dann aber wegen der Nazis 1934 die „jüdische Schweiz“ verlassen musste und nach London ins Exil ging, wo er als Vicky der bekannteste Karikaturist Großbritanniens wurde.

Vicky ist die Vernissage in der Wilhelmstraße gewidmet. Extra aus London eingeflogen wurde der 90-jährige Michael Foot. Er war lange Jahre Vorsitzender der Labour-Party und ein Freund Vickys, der sich 1966 das Leben nahm.

Michael Foot lässt sich im Rollstuhl durch die Botschaft fahren und wartet auf seinen Einsatz. Denn der Botschafter trifft mit Verspätung ein. Er musste Tony Blair zum Flughafen bringen. Der britische Premierminister war auf Kurzbesuch beim Kanzler.

Dann spricht Foot endlich zum Publikum und schüttelt seine weiße Mähne, als wolle er einen seiner feurigen Debattenbeiträge im House of Parliament wiederholen. Er berichtet von Vickys „fürchterlichen Qualen, wenn er das Gebaren der Labour-Parteigrößen und ihrer Anhänger beobachtete“. Vicky allerdings sei es gelungen, „seine Qualen hinter sich zu lassen und das groteske Geschehen mit brillant treffendem Federstrich festzuhalten.“

Leicht gequält tritt nun auch der Botschafter ans Mikrofon. Sir Peter Torry sieht stets aus wie sein eigener Sekretär und wirkt jetzt so, als habe ihn der aktuelle Labour-Vorsitzende Blair eben noch einige Nerven gekostet. Wohl deshalb beschränkt er sich zum Glück für die Zuhörer auf ein paar wenige gähnige Floskeln.

Zeit sich umzuschauen. Manche von Vickys Porträts sind beinah schon wieder modern, wenn er in seinen Zeichnungen ein Gesicht in fast kubistische Flächen aufbricht. Seine Karikaturen zeigen aber auch, wie abhängig zeitbezogene Komik von der Aktualität ist. Sie haben zwar ihren historischen Wert, viel sagen sie uns heute jedoch nicht mehr.

Dafür spricht das Publikum für sich. Es sind die üblichen Hinrenner unterwegs: Ein paar Politchargen, Figuren von ARD, ZDF und RTL, die gewohnten Canapeeschlucker und Cocktailschlürfer scharwenzeln herum. Und mitten drin: Michael Sontheimer. Der ehemalige taz-Chefredakteur und Ex-Spiegel-Korrespondent in London ist erst seit kurzem wieder in Berlin gelandet. Wahrscheinlich erkennt er deshalb niemanden mehr. Früher hat man gegeneinander Fußball gespielt, und jetzt läuft er schon zum dritten Mal blind an einem vorbei. Wir werden ihm schon die Augen öffnen – und zwar mit Hilfe von Ralf Sotscheck. Unser Mann in Dublin stellt auch keine Fragen, als man ihn zu Hause anruft und bittet, Kontakt mit dem Blinden aufzunehmen: „Okay, mach ich“, brummt er nur, und wir warten. Hoffentlich gibt es in der britischen Botschaft keine Schutzabwehr gegen irischen Mobilfunk – nein! Sontheimers Handy klingelt, und der Dialog zehn Meter weiter ist an seinen Lippen abzulesen: Wer ist da? – Wo bist du? – Was soll ich? – Wo sind die? Und dann begreift er endlich, sieht uns und winkt herüber.

Kein großer Hinrenner ist normalerweise F. W. Bernstein, heute allerdings trifft man auch den Doyen der deutschen Zeichner mitten im Geschehen an. Und der mittlerweile emeritierte Professor für Karikatur ist so elegant gekleidet, als ob er geradewegs aus dem House of Lords kommt. Die Neue Frankfurter Schule geht aufs diplomatische Parkett. Dass Lord Fritz tatsächlich zur Hautevolee, zur High Society, zu den oberen Zehntausend gehört, beweist er dann auch gleich, indem er mit lässiger Geste ein Billett hervorzieht. Darauf prangt hochoffiziell das Wappen der Elizabeth Regina II. Er sei offenbar etwas Besonderes, erläutert Lord Fritz Weigle spitzbübisch und zwirbelt seinen weißen Schnurrbart zurecht. Er nämlich sei mit seiner Frau, Michael Foot und wenigen ausgewählten Gästen zum Dinner bei Sir Peter eingeladen. Man werde sich nun in die Residenz des Botschafters im Grunewald verabschieden. Dort gebe es Muscheln und Rehrücken. Ein paar englische Floskeln habe er sich auch zurecht gelegt. Und während wir gewöhnlichen Sterblichen in der Häppchenzone am Rande der Macht zurückbleiben, greift sich Lord Fritz seine Lady und flötet ihr ein sanftes „Cheerio, my Darling“ zu. MICHAEL RINGEL