Schiiten suchen Orientierung

Nach dem Sturz Saddam Husseins regeln Geistliche der größten Glaubensgemeinschaft des Irak viele rechtsfreie Räume. Doch damit ist die künftige politische Entwicklung noch nicht entschieden

BAGDAD taz ■ Ginge es strikt nach dem Mehrheitsprinzip, müssten die Schiiten im künftigen Irak den Ton angeben. Über 60 Prozent der Bevölkerung gehören dieser Glaubensrichtung an. Doch für welche politische Richtung sie sich entscheiden werden – einen schiitischen Gottesstaat à la Iran oder einen säkularen Staat, in dem Religion und Staat strikt getrennt sind –, ist noch unklar. „Derzeit suchen sie eine Orientierung und sind einfach zu manipulieren“, sagt Abed Ali über seine Glaubensbrüder. Ali war Professor für Politikwissenschaften an der Tschad-el-Araf-Uni in der südirakischen Stadt Basra, bevor er für sechs Jahre als politischer Häftling in den Gefängnissen Saddam Husseins verschwand.

Zurzeit geben vor allem die schiitischen Geistlichen im Armenviertel Bagdads, dem ehemaligen Saddam-City, den Ton an. Sie füllen das Vakuum des staatsfreien Raumes. In ihren Moscheen organisieren sie Jugendliche, die sie zur Verkehrsregelung oder zur Essens-, Wasser- oder Medikamentenverteilung losschicken. Sie lassen sie Beutestücke wiederbeschaffen, und bewaffnete Trupps sollen für relative Sicherheit sorgen.

Die meisten Schiiten in dem Armenviertel im Norden Bagdads sprechen heute von einem islamischen Staat wie dem Iran als ihrem großen Vorbild. Doch Politikprofessor Ali meint, dass dies nur ein vorübergehendes Phänomen sei. Durch mehr Informationen erführen sie mehr über den Iran und das tägliche Leben dort. Ebenso von jenen Irakern, die heute im Iran leben, von denen Ali erwartet, dass viele in ihre Heimat zurückkehren werden. Das werde das Idealbild des Iran bald korrigieren. Es gebe 14 verschiedene schiitische Fraktionen im Irak, und nur vier von ihnen propagierten einen Gottesstaat, so Ali. Das Problem mit den säkularen Gruppen sei, dass sie bisher abwarteten, wie sich der Irak weiterentwickle. Mit den Amerikanern wollen sie nicht kooperieren aus Angst, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dass die radikalen Scheichs aber unterdessen das Zepter an sich reißen können, hält Ali für unwahrscheinlich. Binnen kurzem wären die Scheichs untereinander so zerstritten, dass sich das Problem von selbst lösen würde, vermutet er.

Im Haus der Kwajesch wird derweil heftig über die Zukunft des Irak debattiert. Sohn Abbas spricht bereits jetzt vom Widerstand gegen die US-Besatzer, den es zu organisieren gelte. „Die Amerikaner sind für uns Saddam Hussein losgeworden, aber jetzt müssen wir sie loswerden, weil die Amerikaner gegen den Islam und die Schiiten sind“, argumentiert er. Sein Vater ist vorsichtiger. „Die Amerikaner“, sagt er, „reden jetzt von Demokratie und religiöser Freiheit. Sie sollen ein halbes Jahr bekommen, um ihre Versprechen einzulösen“. Er fügt hinzu: „Erst brauchen wir wieder Stabilität im Land, dann leisten wir Widerstand gegen die Besatzer – wenn sie dann noch da sind.“ Er hofft, dass der Irak von den Amerikanern, „anständig behandelt wird“. „Sie dürfen unser Öl nicht stehlen, und sie dürfen uns nicht zwingen, eine israelische Botschaft in Bagdad zu eröffnen“, sind die Bedingungen des Vaters. KARIM EL-GAWHARY