„Das Kopftuchverbot ist die falsche Antwort“, sagt Günter Piening

Die Kopftuchdebatte ist zum Ideologiekrieg um ein Symbol geworden – die wirklichen Konflikte sind viel komplexer

taz: Herr Piening, Sie sind Integrationsbeauftragter in Berlin und wehren sich gegen das dort geplante Kopftuchverbot. Warum?

Günter Piening: Mich stört der bizarre, strenge Tonfall in der Debatte. Der Islam wurde von Anfang an unter Generalverdacht gestellt.

Wirklich?

Es gab anfangs in Berlin sehr wenige nachdenkliche Stimmen. Heute werden die Dinge ein wenig differenzierter gesehen. Es ist ja auch bereits erkennbar, wie kontraproduktiv ein Verbot sein wird. Schon jetzt bekommen in Berlin Frauen, die ein Kopftuch tragen, in Kitas kaum noch Praktikumsplätze. Auf der anderen Seite häufen sich Praktikumsanfragen bei islamischen Erziehungseinrichtungen. Mich treibt die Sorge um, dass wir die falschen Antworten geben. Außerdem: Wir haben mit dem normalen Disziplinarrecht schon längst sehr viele repressive Elemente im öffentlichen Dienst.

Sie meinen, dass unsere Gesellschaft schon über genügend Instrumentarien verfügt und keine weitere staatliche Regelung braucht. Ist das nicht etwas naiv?

Nein. Die Neutralität einer Lehrperson ist ein absolutes Gebot. Dafür brauchen wir kein Kopftuchverbot. Darum geht es in der Debatte auch nicht. Hier geht es um die pauschale Tabuisierung eines Kleidungsstücks. Dagegen wehre ich mich.

Wieso Tabuisierung? Was muslimische Frauen privat tragen, steht doch gar nicht zur Debatte. Es geht darum, dass Lehrer sich das staatliche Neutralitätsgebot halten müssen.

Nein, bei der Verbotsdebatte geht es eben nicht um das Verhalten der Frau, sondern um das Kleidungsstück. Aber selbst wenn wir das Kopftuch verbieten, lösen wir damit kein einziges Problem. Ob eine Lehrerin ein Tuch auf dem Kopf hat oder nicht, verändert nichts an der drängenden Herausforderung, dass wir Mädchen mit Migrationshintergrund Entscheidungsräume und Lebensperspektiven bieten müssen.

Aber es ist auch eine drängende Herausforderung, wie Schulen damit umgehen, dass immer mehr muslimische Mädchen vom Schwimm- und Sportunterricht abgemeldet werden, dass sie von ihren Eltern zum Kopftuchtragen gezwungen werden …

… ja, aber diese Fragen werden durch ein Kopftuchverbot keineswegs beantwortet. Mit und ohne Kopftuchverbot für Lehrerinnen und Erzieherinnen werden wir es weiterhin mit patriarchalische Rollenvorstellungen in den Schulen zu tun haben. Zu glauben, dass wir diese Probleme mit einem Verbot lösen können, ist eine Illusion.

Sie halten die Kopftuchdebatte für reine Augenwischerei?

Im Grunde genommen spielen die Verbotsbefürworter das Spiel der Islamisten mit – die symbolische Überhöhung des Kopftuches. Vielleicht spielt da unterschwellig auch mit, dass man sich so ein gutes Gewissen verschafft – man hat eine entscheidende Schlacht gewonnen. Das ist naiv. Es gibt viel mehr Widersprüche.

Welche?

Die Konflikte in den Schulen bleiben doch. Oder denken Sie an die umstrittene Islamische Föderation, die in Berlin an den Schulen Religionsunterricht erteilt, der staatlich finanziert wird. Und andererseits tun wir so, als ob ein Kopftuchverbot hilft.

Und was hilft ?

Wir müssen die Schulen und auch die Nachbarschaften und Kieze in ihrer Problemlösungskompetenz stärken. Etwa durch Handreichungen für Schulen für den Umgang mit Alltagskonflikten und durch Fortbildung für Lehrende im Umgang mit dem politischen Islam. Natürlich hoffen Lehrende immer auf feste, endgültige Regelungen für Konflikte. Diese Eindeutigkeit kann es aber nicht geben, weil die Verhältnisse eben unübersichtlich sind. Wir sollten genau schauen, wo Schulen mit diesem Problem überlastet und überfordert sind.

Das klingt nach „Lasst uns mal drüber reden“. Das ist zu wenig.

Wir müssen auch schauen, wo sich islamistischer Druck bemerkbar macht – und was wir dagegensetzen. Ich verstehe demokratische Einwanderungsgesellschaften als Gemeinwesen, die sehr komplizierte Aushandlungs- und Abwägungsprozesse hinter sich bringen müssen. Und deshalb komme ich zu dem Schluss, dass der Schaden eines Kopftuchverbots größer wäre als sein Nutzen.

Sie hätten also kein Problem damit, wenn eine Lehrerin mit Kopftuch eine Klasse unterrichtet, in der türkische und arabische Mädchen sitzen, die kein Kopftuch tragen wollen? Glauben Sie nicht, dass die Schülerinnen dies als Druck verstehen können?

Ich nehme diese Befürchtung sehr ernst – allerdings ist es meines Erachtens bislang nichts als eine Vermutung. Selbst das Bundesverfassungsgericht sagte, diese Frage bleibe offen. In NRW zum Beispiel unterrichten mehr als 20 Lehrerinnen mit Kopftuch. Solche Lehrerinnen stehen natürlich unter einer besonderen Beobachtung hinsichtlich ihrer Neutralitätspflicht. Wenn es von Seiten der Eltern Probleme gibt, setzt man sich zusammen und redet darüber. Dieses Verfahren gibt es dort seit zehn Jahren – und es funktioniert. Weil die Verbotsdebatte ideologisch derart polarisiert geführt wird, droht dieser lösungsorientierter Pragmatismus, der die Stärke von Demokratien ausmacht, unterzugehen. INTERVIEW:
ADRIENNE WOLTERSDORF