Aufzählen und bildlich erzählen

Letztes Jahr war die postdramatische Theatergruppe Rimini Protokoll bereits mit dem Stück „Shooting Bourbaki“ im Neuen Cinema zu Gast. In der heutigen Premiere ihres Projekts „Deadline“ lässt sie Experten über den Tod reflektieren

von NIKOLA DURIC

Nach wie vor ist umstritten, wann genau jemand als tot gilt. Haare und Fingernägel wachsen weiter, manche Leiche zuckt noch, gibt Dämpfe oder gar Laute von sich. Allgemein anerkannt ist die Definition des Todes als Organtod des Gehirns. Aber „der schnelle Finger Kunst belebt das tote Holz“ , und darum stellt heute die Theatergruppe Rimini Protokoll ihr neues Projekt Deadline vor. Sie haben Experten wie Gerichtsmediziner, Krankenschwestern und Begräbnisbetreiber eingeladen, um darüber zu berichten, was der Tod ist. In der indischen Philosophie ist der Tod Durchgang zur Wiederbelebung. Für Sören Kierkegaard ist das Leben die „Krankheit zum Tode“.

Die Gruppe Rimini Protokoll ist V-Effekt-Verschieber ersten Ranges. Für ihr Formel 1-Projekt Kreuzworträtsel Boxenstopp holten sie drei Damen aus einem Altenstift auf die Bühne und ließen sie über den Rennzirkus sprechen. Dabei entstand ein gefalteter Blick auf das Geschwindigkeitsphänomen und gleichzeitig eine Bestandsaufnahme des weggeschlossenen Alters in Deutschland. In Shooting Bourbaki, das sie letztes Jahr im Neuen Cinema zeigten, erzählten Teenager von dem Schweizer Phänomen des Knabenschießens, das auf dem gleichnamigen Volksfest praktiziert wird. Für ihren Beitrag während des Festivals „Theater der Welt“ wollten sie eine parallele Bundestagsdebatte mit Kongresskopfhörern und Mikrofonen, im Stile von Synchronsprechern, im alten Bundestag aufführen. Wolfgang Thierse witterte Schindluder, und so übersetzten und sprachen Bonner Bürger die 245. Sitzung des Bundestages im Foyer des dortigen Schauspielhauses mit.

Anstatt gelernte Schauspieler gelehrte Texte auswendig aufsagen zu lassen, holen sich Rimini Protokoll lieber bühnenunerfahrene Experten ins Rampenlicht. Somit sind sie eine ikonoklastische Theatergruppe par exellance, die sich Gilles Deleuzes Methodenverschiebung auf die Fahne geschrieben hat: sie fragt nicht danach, was etwas bedeutet, sondern wie es funktioniert. Rimini Protokoll betreiben Realitätsverschiebung. Sie platzieren Kunst im Alltag und beobachten dann die Beobachtung. Für das Festival „Theaterformen“ luden sie 2002 etwa 30 Zuschauer in den zehnten Stock des Kröpcke-Centers in Hannover ein und verteilten Ferngläser, durch die sich ein belebter Platz in der Innenstadt beobachten ließ. Über Kopfhörer konnten die Voyeure dann Kommentaren von Kaufhausdetektiven oder Anweisungen eines Privatüberwachers lauschen. Die Passanten wurden so zu Akteuren eines subtilen Verschwörungsdramas.

Rimini Protokoll gehören aber auch zu den Gruppen, die postdramatisches Theater betreiben, Theater, das ohne dialogische Texte und rückblickende Erzählung auskommen kann. Wenn es irgendwo Ärger auf der Welt gibt, greifen Akteure des Stadttheaters auf Stücke zurück, die sich auf zeitgenössische Politik übertragen lassen, darum wird derzeit Lessings Religionsstück Nathan der Weise rauf und runter gespielt. Diese Methode besteht aus der Erkärung der Situation durch einen rückwärtsgerichteten Blick. Die postdramatische Methode der Theatermacher ist die Kreierung eines eigenen Kontextes.

Und Geschichten über diese Kontexte sind nicht endlos. Postdramatiker meinen, dass sich alle Erzählungen ihrem Ende nähern. Dass künftig nichts mehr erzählt werden wird, sondern nur noch aufgezählt oder bildlich geschildert. Somit betreiben Rimini Protokoll eine Art Dokumentationstheater, über die Zeit, in der wir leben.

heute, 20 Uhr, weitere Termine: 25.–27.4. + 1.–4.5., 20 Uhr, Neues Cinema