Forschungsgegenstand 1. Mai

Erste größere Studie erschienen. Der Tag ist von Ritualen und Selbstinszenierungen bestimmt, sagen die Protestforscher und prognostizieren Krawalle auch für dieses Jahr

Brennende Barrikaden und geplünderte Supermärkte – wilder Straßenmob oder geschickt inszeniertes Ritual? Längst ist das „Faszinosum 1. Mai“ zum Forschungsgegenstand zahlreicher Wissenschaftler geworden. Doch abgesehen von einigen Expertengesprächen im Fernsehen hatte es bisher keiner von ihnen geschafft, den 1. Mai in Berlin tatsächlich wissenschaftlich zu analysieren. Einer Gruppe ist es nun aber gelungen: Studenten um den Berliner Protest- und Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) haben die erste umfangreiche Studie zum Berliner Ersten Mai herausgebracht. Untertitel: „Politische Demonstrationsrituale“. Denn nicht die politische Botschaft an die Allgemeinheit sei das wichtigste Ziel am 1. Mai, so das zentrale Ergebnis der Studie. „Die Akteure kommen zusammen, um für sich Sinn zu stiften“, erklärte Rucht gestern bei der Vorstellung des Buchs. Von „Rebellionsritual“ sprach sein Mitautor Norbert Meyerhöfer. 40 Beobachter waren letztes Jahr am 1. Mai unterwegs, um die vielen Demonstrationen, Veranstaltungen und die anschließenden Krawalle zu dokumentieren und auszuwerten – um hinterher festzustellen: So langweilig ist der 1. Mai gar nicht.

„Wohl an keinem Ort der Welt, hat sich am 1. Mai ein derart facettenreiches und widersprüchliches Geschehen wie letztes Jahr in Berlin entfaltet“, findet zumindest Rucht. Viele glaubten, der 1. Mai sei ein „seltsames Gemisch ritualisierter Langeweile und Drohgebärden, das unausrottbar zum politischen Kalender gehört“. Dies sei aber nicht so. Auch wenn der alljährliche Streit „Wer mit wem und wohin“ für die Allgemeinheit kaum nachvollziehbar sei – hinter den Kulissen würden unter den Veranstaltern hoch politische Diskussionen geführt. Nur interessiere das die meisten Medien nicht. Und auch aus soziologischer Sicht sei es kein Zufall, dass gerade der Protest am 1. Mai so zersplittert ist: „Die vielen Gruppen in Kreuzberg brauchen den 1. Mai, um eine eigene Identität zu schaffen, sich vor allem aber gegen die Rivalen abzugrenzen“, sagte Rucht. Die Krawalle erklärt er mit dem Gründungsmythos von 87, als ein Bolle-Supermarkt brannte. Seitdem werde der „Revolutionäre 1. Mai“ von vielen beansprucht. Im Kampf um das wahre Erbe produzierten alle Akteure ihre eigenen, symbolbeladenen Bilder.

Die Medien tragen laut Rucht ihr Teil zum 1.-Mai-Ritual bei: Journalisten produzierten Bilder von Kreuzberg, die von Feuer und Gewalt beherrscht seien. Dabei zeichneten sie ein immer gleiches, „an ein Schlachtgemälde“ erinnerndes Bild. Was die Demonstranten wollten, werde von den Medien weitgehend ausgeklammert. Höchstens gewerkschaftliche Veranstalter könnten damit rechnen, dass über ihre Forderungen berichtet werde.

Kritik an der Studie bleibt nicht aus: So basieren die Ergebnisse des Buches weitgehend auf Interviews mit den Organisatoren. Über die große Zahl der unorganisierten 1.-Mai-Demonstranten konnten die Forscher nur wenig herausfinden. Für die kommende Mainacht prognostizieren sie: Gerade wegen der ritualisierten Bedeutung des Tages seien gut gemeinte Straßenfeste zur Befriedung der Randalierer wenig erfolgversprechend. Dieter Rucht glaubt daher auch nicht, „dass der 1. Mai 2003 gänzlich friedlich ablaufen wird“.

FELIX LEE