Wind im Süden

Die Nutzung der Windenergie war lange Zeit wie der Wind selbst. Mal stürmisch, mal lau. Die letzte Böe jedoch hält seit 1974 an. Und mit Martin Kühn wurde jetzt in Stuttgart der erste deutsche Lehrstuhl für Windenergie besetzt

VON BERNWARD JANZING

So mancher Mythos umrankt die moderne Windkraft. Zum Beispiel dieser: Windturbinen gehören an die Küste. Klingt plausibel, ist aber falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Die Stromerzeugung durch Windkraft hat ihre Wurzeln in Baden-Württemberg, im Binnenland.

Die Geschichte der Windkraft beginnt mit einem Verbot. Der Zweite Weltkrieg war gerade zu Ende, und die Alliierten hatten das Regiment übernommen. Um Deutschland zu demilitarisieren, waren Branchen, deren Produkte militärisch nutzbar waren, nicht mehr geduldet.

So auch der Flugzeugbau. Die Flugingenieure mussten sich also ein neues Arbeitsfeld suchen. Sie schwenkten zu einer Wissenschaft um, die über jeden Verdacht, militärische Potenziale zu bergen, erhaben war – zur Windkraft. Das lag nahe, denn schließlich hat die Aerodynamik von Windrotorflügeln mit jener der Tragflächen vieles gemeinsam. Auch die eingesetzten Werkstoffe sind ähnlich. So war die Umstellung von der Aeronautik auf Windkraft für die Techniker keine große Veränderung – für die erneuerbaren Energien war es jedoch der entscheidende Schritt in eine neue Ära.

Am Stuttgarter Institut für Flugzeugbau am Pfaffenwaldring weist auf einem Sockel im Hof ein Windmühlenflügel in den Himmel der Landeshauptstadt. Der „mahnende Energiefinger“, wie Ingenieur Heiner Dörner, Lehrbeauftragter für Windenergie, ihn heute nennt. So preiswert und passend wie hier sind Denkmäler selten: Der Originalflügel, der 1968 auf der Alb beim Abriss einer Anlage sichergestellt wurde, war von einem Langholztransporter, der zufällig des Weges kam, nach Stuttgart transportiert worden.

Hier am Institut wirkte ab 1953 Ulrich Hütter, der Vater der modernen Windkraft. Hütter war ein Konstrukteur aus Leidenschaft. Er vertrat die These, dass man sich an der Natur und ihren Lösungen orientieren müsse. Hütter war von der Aerodynamik fasziniert. Schon als Student hatte er mit seinem Bruder das legendäre Segelflugzeug H 17 entwickelt. Und schon als Dozent für Luftfahrttechnik an der Ingenieurschule Weimar kam er mit dem Gebiet der Windenergie in Berührung. In seiner Dissertation entwickelte er eine heute noch benutzte Theorie zur Auslegung von Windenergie-Konverten, die in den Vierzigerjahren in verschiedenen Anlagen ausprobiert wurde. Als die Alliierten ihm nach dem Krieg seine Luftfahrt nahmen, schwenkte der Wissenschaftler gänzlich vom Propeller zu den Rotoren um.

Bereits unmittelbar nach Kriegsende entwickelte Hütter zusammen mit der Firma Schempp-Hirth Flugzeugbau in Kirchheim/Teck einen Einblattrotor mit 600 Watt Leistung. Eine 1,3 Kilowatt Anlage folgte unmittelbar nach; sie versorgte ab 1947 eine Hühnerfarm im nahe gelegenen Ohmden. Diese kleine Maschine war der Beginn einer Industrie, die fünfzig Jahre später Weltruf erlangen sollte.

Nachfolger ließen nicht lange auf sich warten. Der Fabrikant Erwin Allgaier aus dem württembergischen Uhingen erkannte, welche Chancen für seinen mittelständischen Maschinenbaubetrieb in der neuen Technik steckten. Er stellte Hütter 1948 als Chefkonstrukteur an und richtete in unmittelbarer Nähe des Unternehmens ein Windtestfeld ein. Bald entwickelte Hütter den ersten Dreiflügler mit zunächst 7,2 Kilowatt Leistung; es war das deutschlandweit erste Windrad mit aerodynamisch optimierten Flügeln. Im Jahre 1950 ging die Produktion des Windrads in Serie, und im Laufe des Jahrzehnts wurde es von der Firma Allgaier rund zweihundertmal produziert.

Auch auf einigen Höhen der deutschen Mittelgebirge wurde die Anlage – Allgaier WE 10 genannt – errichtet. Zum Beispiel im Jahre 1952 auf dem Gipel des Feldbergs im Schwarzwald. Von dort versorgte sie bis in die Sechzigerjahre hinein die Wetterstation und eine Richtfunkanlage der Deutschen Bundesbahn mit Strom.

In anderen Bundesländern widmeten sich zu dieser Zeit allenfalls Tüftler der Stromerzeugung mittels Windturbinen. In Baden-Württemberg hingegen waren bald namhafte Technologieunternehmen in das Geschäft mit dem Windstrom involviert. Die Firma Porsche baute Windkraftwerke und testete sie auf ihrem Stuttgarter Firmengelände. Die Firma Voith in Heidenheim, im Bau von Wasserturbinen erfahren, lieferte Getriebe für Windräder. Escher/Wyss in Ravensburg, ebenfalls mit der Wasserkraft groß geworden, verkaufte die Drehlager dazu.

Wo so viel Know-how zusammenkam, brauchte man bald ein großes Testfeld für Windturbinen. Dieses entstand 1956 in Stötten auf der Schwäbischen Alb – es war das deutsche Versuchsgelände schlechthin für die Windkraft dieser Zeit. Der Stuttgarter Flugzeugingenieur Hütter wagte nun den gewaltigen Sprung zur 100-Kilowatt-Anlage. Und die sollte nicht nur für die Windkraft eine große Innovation werden: Die beiden jeweils 17 Meter langen Rotorblätter wurden aus Glasfaserverbundwerkstoff hergestellt – sie waren die größten Teile, die man jemals aus dem neuen Material gefertigt hatte. Die erste Anlage dieser Art – wegen ihres Durchmessers von 34 Metern W 34 genannt – ging im September 1957 in Betrieb. Die Firma Allgaier hatte damit eine Anlage von geradezu revolutionärer Leistungskraft realisiert – den Prototyp für den Windboom der Neunzigerjahre.

Doch trotz aller Erfolge begann sich schon wenig später der Wind zu drehen. Die noch junge Technik wurde alsbald zum Auslaufmodell, die Firma Allgaier stellte im Jahr 1961 ihr Windkraft-Engagement mangels wirtschaftlicher Perspektiven ein. Politik und Gesellschaft schwärmten längst von einer anderen Energie: der Atomkraft.

Das Jahr 1968 markierte den Wandel: In Obrigheim ging das erste kommerzielle Atomkraftwerk Deutschlands ans Netz. Im selben Jahr wurde die W 34 auf dem Testfeld in Stötten abgerissen. Die Forschung an der Windkraft wurde gleichzeitig bundesweit eingestellt. Für alle Zeit begraben schienen sie nun, die unbändigen Kräfte aus den Lüften deutscher Lande.

Irrwitzige Prognosen leiteten in diesen Zeiten die Politik. Die Kernforschungsanlage Jülich fabulierte von fast 600 Atomreaktorblöcken, die bundesweit bis ins Jahr 2050 notwendig würden. Die Bundesregierung hegte ähnliche Vorstellungen und lehnte selbst in Ballungsräumen Atomkraftwerke „nicht grundsätzlich“ ab.

Widerspruch war rar. Die trügerische Hoffnung, Strom künftig in jeder Menge billigst beziehen zu können, faszinierte die Menschen. Schnell wurden sie blind für die Probleme dieser Technik. Schnell hatten sie auch die wirtschaftliche Realität verdrängt. Und so vermochte jener Mythos der Sechzigerjahre zu keimen, der den Stromzähler aussterben sah: Zu billig zum Messen – das war die Energievision dieser Zeit. Für Windkraft ließ sie keinen Platz mehr.

Natürlich hielt dieser Irrglaube sich nicht lange. Und dennoch blieben Spuren. Die einst sehr erfolgreich gestartete südwestdeutsche Windbranche lag am Ende der Sechzigerjahre danieder. Ausgaben für Windkraftforschung schienen rausgeschmissenes Geld. Und das Lebenswerk des Stuttgarter Professors Hütter – wie weggeblasen.

Erst die Ölkrise brachte die Rettung. 1972 fragte plötzlich die Nasa in Stuttgart an, ob Hütter nicht die alte W 34 wieder bauen wolle. Verwirrung am Institut war die Folge – mit einem solchen Ansinnen hatte man nun wirklich nicht mehr gerechnet. Sofort ging die Suche los. Und tatsächlich konnte ein Konstrukteur die Pläne, längst in irgendwelchen Hinterzimmern verstaubt, noch auftreiben. Sie wurden verkauft nach Amerika, wo der Konzern Westinghouse die Anlagen nachbaute.

Wenig später erwachte auch in Deutschland wieder das Interesse an der Windkraft. Denn als Spritmangel die Autobahnen leerte, nahmen die Menschen plötzlich wieder den Wert heimischer Energiequellen wahr. Und so startete im Jahre 1974 die Windenergieforschung von neuem – dort, wo sie sich ein Vierteljahrhundert zuvor schon einmal etabliert hatte: an der Universität Stuttgart.

Die Windkraft, sagt Ingenieur Dörner heute, komme eben „immer in Wellen über die Menschheit“. So nach dem Ersten Weltkrieg, als die Kohle knapp wurde; nach dem Zweiten Weltkrieg als die Energieversorgung brachlag; und nun nach dem Ölpreisschock. Und jede Welle war stärker als die vorherige.

In alter Tradition war es die Industrie im Südwesten, die als erste wieder in die Branche einstieg. Voith in Heidenheim baute nun ganze Windkraftanlagen, ebenso Dornier in Friedrichshafen. Auch die Deutsche Forschungsanstalt für Luft und Raumfahrt in Stuttgart mischte mit. Dann erst schwappte die Windkraftwelle von Baden-Württemberg nach Bayern: MAN in Augsburg entwickelte eine eigene Windkraftanlage namens Aeroman. MBB in München stellte fortan Rotorblätter her.

Erst die Großwindanlage Growian, die im niedersächsischen Marne an der Elbmündung in den Achtzigerjahren errichtet wurde, machte den Strom aus Windkraft an der Küste heimisch. Der Vater von Growian aber war – natürlich – der Stuttgarter Ingenieur Hütter. Nur hatte der sich diesmal etwas übernommen: Growian wurde – weil mit 3 Megawatt für jene Zeit überdimensioniert – zum Fiaskoprojekt.

Niedersachsen und auch Schleswig-Holstein ließen sich nun nicht mehr bremsen. Baden-Württemberg und Bayern unterdessen versackten in Phlegma – die Früchte der Stuttgarter Forschung wurden fortan an der See geerntet. Dort hatten sich inzwischen innovative Mittelständler der Windkraft angenommen. Auch hatte die kränkelnde Werftindustrie plötzlich erkannt, dass sich mit dem Bau von Windturbinen gutes Geld verdienen lässt. Denn langsam kam der Markt in Schwung – dank des Stromeinspeisungsgesetzes von 1991, das erstmals sichere Rahmenbedingungen für Investoren geschaffen hatte.

Die Leistungen der Anlagen stiegen kontinuierlich. Hatte Hütter Ende der Fünfzigerjahre noch eine Maschine mit 100 Kilowatt realisiert, so waren Anfang der Neunzigerjahre bald 200 bis 300 Kilowatt Standard. Wenige Jahre später waren es 500 bis 600 Kilowatt. Heute leisten die in Deutschland errichteten Anlagen im Durchschnitt bereits mehr als 1,5 Megawatt, die derzeit größten Prototypen sogar mehr als das Doppelte – und damit 5.000-mal mehr als die erste Anlage im Jahre 1947 auf der innovativen Hühnerfarm in Schwaben. Am Ende der Fahnenstange ist man noch immer nicht: 5-Megawatt-Turbinen für den Offshoreeinsatz werden in wenigen Jahren in Serie verfügbar sein.

Doch von Baden-Württemberg als Land der Windkraft spricht längst niemand mehr. Keine zwei Prozent der deutschen Windkraftleistung sind heute im Südwesten installiert – von 13.500 Megawatt sind es gerade 200. Noch schlechter steht Bayern mit 160 Megawatt da. Schleswig-Holstein hingegen kommt auf 2.000, Niedersachsen gar auf mehr als 3.500 Megawatt.

An den Windverhältnissen liegt das nicht. Die sind in den süddeutschen Mittelgebirgen stellenweise nicht schlechter als an der Küste. Mit deutlich mehr als fünf Metern pro Sekunde in zehn Meter Höhe können es viele Gipfellagen gut mit den Seestandorten aufnehmen. Der Rückstand der Südländer ist zum großen Teil politisch motiviert.

Am besten zu beobachten derzeit in Freiburg, wo der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel gerade zwei seit September laufende Windräder am liebsten wieder abreißen würde. Denn Teufel findet ganz persönlich, dass die beiden 1,8-Megawatt-Anlagen schlicht eine Landschaftsverschandelung darstellen. Weil man das im Baugenehmigungsverfahren nicht ausreichend gewürdigt habe, klagt Teufel gegen den im Januar 2003 ergangenen Bescheid.

Unterdessen tut sich unweit des Stuttgarter Regierungssitzes Beachtliches. Die Universität der baden-württembergischen Landeshauptstadt wird in diesen Wochen den ersten deutschen Lehrstuhl für Windenergie besetzen. Die neue Professur wird der Luft- und Raumfahrttechnik zugeordnet – jener Fakultät, an der einst auch Pionier Hütter lehrte.

Für einen Zeitraum von zehn Jahren wird die Karl-Schlecht-Stiftung den Lehrstuhl mit insgesamt 2,5 Millionen Euro finanzieren. Namens- und Geldgeber ist der Chef des Betonpumpenherstellers Putzmeister aus Aichtal südlich von Stuttgart.

Was das Land nie schaffte – und unter Teufel auch nie wollte –, bewerkstelligt nun also ein Mäzen aus der Wirtschaft: Baden-Württemberg wird an seine turbulente Windkraftgeschichte der frühen Nachkriegszeit anknüpfen.

BERNWARD JANZING, 38, lebt als freier Autor in Freiburg. Sein jüngstes Buch, „Baden unter Strom“, erzählt die Geschichte der Stromwirtschaft im deutschen Südwesten