Die Kinder leiden mit

Die Hamburger Beratungsstelle Cosip wendet sich an Kinder körperlich kranker Eltern. Offene Gespräche sind notwendig, damit die Kinder nicht auch behandlungsbedürftig werden

„Elternhaben Angst vor einer weiteren Stigmatisierung“

von ANDREA SCHNEIDER

14 Jahre alt war Christian Wulff, als seine Mutter erstmals an einem akuten Schub der Jahre später diagnostizierten Multiplen Sklerose erkrankte. Zu einer Zeit, als in den Elternhäusern Gleichaltriger die pubertären Fetzen flogen, wurde Wulff mit einer unheimlichen und – was ihren Verlauf angeht – nicht einschätzbaren Krankheit konfrontiert. Immerhin: MS endet in nicht wenigen Fällen mit schwersten Behinderungen oder Tod. An Trauer und Ohnmacht erinnert sich der niedersächsische Ministerpräsident, wenn er zurückdenkt. Doch glaubt er, dass Pflege und Anteilnahme an der Krankheit seiner Mutter ihn auch haben reifen lassen.

„Wulff hat Glück gehabt“, sagt die Kinderärztin und Psychotherapeutin Miriam Haagen. Glück vielleicht, weil seine Familie von Anfang an sehr offen mit der Erkrankung der Mutter umgegangen ist, Hilfe von außen angenommen hat und eine ständige Diskussion pflegte, die den jungen Christian zwar mit den Realitäten konfrontierte, aber nicht überforderte.

Etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen, deren Mütter oder Väter unheilbar erkranken, haben allerdings weniger Glück. „Sie geraten in seelische Not“, sagt Miriam Haagen. Als stellvertretende Leiterin der Beratungsstelle „Cosip“ (Children of somatically ill parents) des Hamburger Unikrankenhauses Eppendorf ist sie mit den unterschiedlichsten Folgen elterlicher Erkrankungen konfrontiert. Kinder können sich so stark mit der Rolle des Beschützers identifizieren, dass sie selbst zum Experten und Partner der Erkrankten werden.

Diese Parentifizierung bedeutet, dass Kinder ihre Kinderrolle verlassen. Mit häufig schwer wiegenden Folgen: Trainiert, die Gefühle des erkrankten und nicht selten auch des gesunden Elternteils zu erkennen, verlieren Kinder ihre Spontanität, werden „altklug“ und vor allem: Sie sind meist unfähig, ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle auch als spätere Erwachsene zu erkennen, geschweige denn zu äußern.

Doch die Beratungsstelle musste anfangs mit erheblichen Akzeptanzproblemen kämpfen. „Die meisten Ärzte wollen Eltern in einer ohnehin schon dramatischen Situation nicht noch zusätzlich mit einem Beratungsangebot für die Kinder belasten“, sagt Haagen. Dass ihr Angebot tatsächlich eine Bedrohung für die Eltern sein kann, mussten auch die Cosip-Mitarbeiter erst lernen. Denn die Beratungsstelle ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. „Eltern haben Angst vor einer weiteren Stigmatisierung“, so die Beobachtungen des Teams.

Überzeugungsarbeit ist gefragt – für Familien, die Angst haben, nun auch noch wegen einer schweren Erkrankung „für verrückt erklärt“ zu werden. Manchmal gilt es, Worte zu finden für das Unaussprechliche, den Tod. Eigene Ängste, Befürchtungen und Sorgen zu benennen und damit besprechbar zu machen. Für Eltern, das weiß man im Cosip-Team, eine oft unlösbare Aufgabe. Denn mangelnde eigene Information über die Erkrankung und die Unsicherheit, Kinder darüber aufzuklären, führen oft zur Vermeidung dieser wichtigen Gespräche. „Doch die körperliche Erkrankung eines Elternteils kann die psychosoziale Entwicklung der Kinder erschweren oder nachhaltig beschädigen“, sagt Miriam Haagen.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Bereits 1966 wurden nach einer Studie des britischen Kinder- und Jugendpsychiaters Sir Michael Rutter Kinder erkrankter Eltern als Risikogruppe für die Ausprägung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung eingestuft. Die Reaktionen auf das Wissen waren jedoch nur halbherzig. Selbst wohl gemeinte Absichten fielen einer Medizin zum Opfer, die angesichts des wachsenden Kostendrucks immer effizienter arbeiten muss. „Oft wissen behandelnde Ärzte noch nicht einmal, dass ihre Patienten Kinder haben“, sagt Miriam Haagen.

Die Arbeit der Beratungsstelle ist mittlerweile anerkannt. Immer öfter und auch früher überweisen Mediziner und Psychologen Kinder in die EU-Modellabteilung. „Je früher, desto besser“, sagt Miriam Haagen. Denn sie möchte ansetzen, bevor Kinder Zuflucht in vielleicht nicht altersgemäßen Verarbeitungsmodellen nehmen. Die Ängste der Kinder seien sehr unterschiedlich, führt die Ärztin aus. Besonders bei Vorschulkindern seien elterliche Erklärungen über die Krankheit und deren Folgen häufig nicht altersgerecht.

Die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz können nach Aussage von Miriam Haagen für Jugendliche mit einem kranken Elternteil massiv erschwert werden. Denn der Aufbau einer eigenen Identität finde immer auch in der kraftvoll kämpferischen Auseinandersetzung mit der elterlichen Welt statt. Ist aber ein Elternteil bedrohlich erkrankt, fehlt die so wesentliche Gewissheit, dass die Eltern auch massive Infragestellungen und Angriffe buchstäblich überleben.

Die Kinder stehen bei der Arbeit der Beratungsstelle im Vordergrund. Dabei gilt es immer wieder, ressourcenorientierte Gespräche auch mit den Eltern zu führen, um deren elterliche Kompetenz trotz Erkrankung zu stärken. Manchmal geht es um Kleinigkeiten. Spielsachen im Krankenzimmer beispielsweise. Denn niemand dürfe von einem Kind verlangen, dass es sich wie ein Erwachsener an das Krankenbett eines schwer kranken Menschen setzen könne.

Die Diagnose einer lebensbedrohenden Krankheit ruft immer auch Todesphantasien hervor. Bei Erwachsenen, aber auch bei Kindern. Nur ist deren Verständnis vom Tod ein anderes als das von Erwachsenen. „Besonders kleine Kinder haben noch keinen definierten Zeitbegriff“, sagt die Kinderärztin. Kompetenz der überlebenden Partner zu stärken bedeute auch, auf die Frage – von einem Kind gestellt – gefasst zu sein: „Kann Mama jetzt aufhören, tot zu sein?“

Lange Psychotherapie ist zumeist nicht nötig. Mit kurzfristigen Interventionen gelinge es, „mit den Eltern gemeinsam herauszufinden, was die Kinder brauchen“, sagt Miriam Haagen. Natürlich hofft sie, dass sich Beratungsstellen wie die in Hamburg weiter etablieren, deren Arbeit dann auch als Krankenkassenleistung abgerechnet werden kann. Letzteres ist bislang nicht der Fall, da die Vorbeugung einer möglichen psychischen Erkrankung wie so viele andere Präventionsmaßnahmen nicht in den Katalog der gesetzlichen Gesundheitsleistungen fällt.

Doch viel lieber als ein weit gespanntes Netz der Beratungsstellen wäre der Kinderärztin eine Medizin, die sich wieder Zeit nehmen kann für die Patienten. Die nicht nur die Gallenblase oder den Tumor sehen darf, sondern den ganzen Menschen in seinem sozialen Umfeld. Das aber setzt ein Medizinverständnis voraus, das sich nicht nur um Kostenersparnis sorgt, sondern fragt, welche medizinische Versorgung wir uns für welchen Preis leisten wollen. Von solch grundsätzlichen Überlegungen für eine humane Medizin aber ist gegenwärtig nichts zu erkennen.