SARS regiert die alte Kaiserstadt

In der chinesischen Hauptstadt Peking, wo das Virus derzeit am schlimmsten wütet, greift die Krankheit längst in den Alltag der Menschen ein

aus Peking GEORG BLUME

Von einem Tag auf den anderen sind die Arbeiter fort. Bisher kamen sie jeden Morgen in ihren verstaubten Anzügen mit einem Glas grünen Tees in der Hand die Treppe zur Nachbarwohnung hochgestiefelt, wo sie Bad und Küche kachelten und Wände strichen. Am Donnerstag jedoch steht ihr Chef Wang Hui allein mit dem Farbeimer da und streicht.

Wang ist ein Kleinunternehmer mit blauem Handy in der Herrentasche, der bisher nie den Pinsel in die Hand nahm. „Sie alle haben Peking aus Angst verlassen und sind nach Anhui zurückgekehrt“, berichtet Wang, der selbst aus der Bauernprovinz am Yangtze-Fluss stammt, über seine Arbeiter. Da summt sein Handy. Einen Moment später seufzt Wang: „Schon wieder einer, der die Zugfahrkarte nach Hause gelöst hat.“ Zu Wochenbeginn hatte Wang noch vier Baustellen am Laufen gehabt, jetzt liegen alle still. Der Boss aber zeigt Verständnis: „Ich habe ein Auto und kann mich in der Stadt sicher bewegen, aber die Arbeiter müssen jeden Tag mehrere Stunden im Bus zur Baustelle und zurück in den Vorort fahren. Für sie ist die Ansteckungsgefahr viel größer.“

Doch können sich Wangs Wanderarbeiter die weite Heimreise überhaupt leisten? War seine Truppe nicht sogar über das Neujahrsfest in Peking geblieben, zu dem sonst jeder, der genug Geld hat, nach Hause fährt? „Die wollen kein Geld mehr, sondern nur noch nach Hause“, entgegnet Wang. „Das Leben ist ihnen wichtiger als der Lohn.“ Das sind Worte, wie man sie in der boomenden chinesischen Hauptstadt, zumal von einem ihrer Goldgräber wie Wang, lange Zeit nicht mehr vernommen hat. Doch das zuerst im November letzten Jahres in der südchinesischen Provinz Guangdong aufgetauchte Coronavirus, das die atypische Lungenentzündung mit dem Namen SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) auslöst, stellt längst nicht mehr nur Touristenreisen und Geschäftskonferenzen in Frage. In Peking, wo das Virus am schlimmsten wütet und es mit etwa 700 Erkrankten und 800 Verdachtsfällen die meisten Betroffenen innerhalb Chinas gibt, greift die Krankheit längst in den Alltag ein.

Vor der Haustür parkt der silberne Toyota-Jeep von Jiang Wen, Chinas populärstem Schauspieler, der mit seinem Film „Teufel vor der Tür“ vor zwei Jahren die silberne Palme in Cannes gewann. In schwarzer Lederjacke und schwarzen Turnschuhen gewohnt locker gekleidet, ist Jiang an diesem Morgen dennoch betrübt. Am Abend zuvor haben ihm Frau und Tochter aus Paris mitgeteilt, dass sie die Osterferien bis zum Sommer zu verlängern gedenken, um jedes SARS-Risiko zu vermeiden. Dabei hatte sich der Vater gerade für Dreharbeiten in Peking entschieden, um bei der Familie bleiben zu können. Genervt steigt Jiang ins Auto. „Aber aus dem Kindergeburtstag wäre sowieso nichts geworden“, ruft er aus dem Fenster. „Mit mehr als dreißig Kindern hätten wir für die Party jetzt eine behördliche Erlaubnis haben müssen, und die Eltern hätten da vermutlich eh nicht mitgemacht.“ Auch das steht am Donnerstag in den Pekinger Zeitungen: Jede Versammlung mit mehr als dreißig Teilnehmern muss ab sofort von den Stadtbehörden genehmigt werden.

Vor dem Haus spielen zwei amerikanisch-taiwanesische Nachbarskinder mit ihren chinesischen Kindermädchen. Nebenan hat die Grundschule, die die Kinder noch bis zum Vortag besuchten, wie alle Pekinger Schulen für vier Wochen ihre Pforten geschlossen. Die Kinder verstehen das nicht: „In der Schule war niemand krank“, wundert sich Jacqueline. Doch ihr Kindermädchen An Hui erzählt aufgeregt, wie es ihr an diesem Morgen erst im dritten Geschäft gelang, einen Fünf-Kilo-Sack Reis zu erstehen. „Überall sind Reis, Mehl und Eier ausverkauft“, berichtet An. Auf der Titelseite der führenden Pekinger Tageszeitung Youth Daily indes prangt ein Foto von Arbeitern, die einen Atemschutz tragen und Kartons mit Salz verladen. Darunter ist zu lesen: „Stadtregierung: Lebensmittel reichen aus“.

Wer aber hätte zuvor auch nur den Gedanken gewagt, dass es dem prosperierenden Peking noch einmal an Reis fehlen könnte? Waren die Dritte-Welt-Zeiten hier nicht ein für alle Mal vorbei? Die Hamsterkäufe zeigen, wie wenig man dem jungen Wohlstand der Warengesellschaft vertraut, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht. Die Regierenden, deren Schicksal wie in kaum einem anderen Land vom Wachstum abhängig ist, dürfte das kaum beruhigen.

Der Filmemacher Tang Di, bekannt für seine Tibet-Reportagen, spricht von „Rache der Natur“. Es sei furchtbar in Peking. Noch immer seien die Opferzahlen höher als öffentlich angegeben, vermutlich gebe es 400 Tote, die Krankenhäuser seien überfüllt, viele Patienten würden nicht mehr betreut, ein Freund aus Schanghai habe im Pekinger Flughafen nur einmal gehustet und sei gleich für zwei Tage in Quarantäne gekommen. Peking ist voll solcher Geschichten. „Die Soldaten in den Kasernen warten auf den Befehl, die Stadt abzusperren“, sagt Bauunternehmer Wang. Auch das wird von den Zeitungen bestritten. Zugleich aber wird mit jedem Dementi deutlicher: Nicht mehr die Kommunisten, sondern das Virus regiert in diesen Tagen die alte Kaiserstadt.