Katerstimmung bei Irans Reformern

Bei den Parlamentswahlen liegt die Wahlbeteiligung höher als erwartet. Doch auch ein Sieg der Konservativen kann die gesellschaftlichen Widersprüche nicht auflösen. Die Veränderungen der letzten Jahre lassen sich nicht einfach ignorieren

AUS TEHERAN KARIM EL-GAWHARY

Die iranischen Konservativen sehen in den Ergebnissen der Parlamentswahl vom vergangenen Freitag „einen neuen Höhepunkt der Islamischen Revolution“. Trotz eines Boykottaufrufs weiter Teile der iranischen Reformbewegung lag die Wahlbeteiligung gestern Nachmittag offiziellen Angaben zufolge bei 50,6 Prozent. Obwohl noch nicht alle der 290 Sitze ausgezählt sind, hatten die Konservativen danach über 200 Sitze erobert. Unter den siegreichen Kandidaten befindet sich bisher keine einzige Frau. Nur drei Frauen sind noch im Rennen. Im letzten Parlament saßen dreizehn weibliche Abgeordnete.

Der geistliche Führer des Landes, Ali Chamenei, bezeichnete die Wahlen als fair und nannte „Amerika, die Zionisten und die Feinde der iranischen Nation“ als die wahren Verlierer der Wahlen. „Alle Boykottaufrufe der Reformer und der ausländischen Propaganda sind gescheitert“, heißt es allerorten in konservativen Kreisen begeistert.

Bei den Reformern herrscht dagegen Katerstimmung. Einige haben sich zum Kurzurlaub abgesetzt und sind nicht zu sprechen. Andere, wie der prominente Journalist Mashaallah Schamsolväzin, sprechen nicht nur von der Niederlage der Reformer, sondern der iranischen Demokratie. Mehr als 2.300 Reformkandidaten, darunter auch 83 bisherige Parlamentarier, waren im Vorfeld der Wahlen vom konservativen Wächterrat als „unislamisch“ disqualifiziert worden.

Im Zentrum des Kampfes zwischen Reformern und Konservativen stand die Wahlbeteiligung. „Die Konservativen brauchen eine hohe Wahlbeteiligung, um nach innen zu beweisen, dass die Reformer am Ende sind, und nach außen, dass sie die Legitimität des Volkes besitzen“, sagt Schamsolväzin. Sollte sich beim Endergebnis eine Wahlbeteilung von gut 50 Prozent herausstellen, dann läge diese Zahl niedriger als bei den letzten Parlamentswahlen, bei denen 67 Prozent zu den Urnen gingen, um mehrheitlich den Reformern ihre Stimmen zu geben. Allerdings läge diese Ergebnis weit über den Hoffnungen der Reformer, die mit nicht mehr als 20 Prozent gerechnet hatten.

Seit zwei Amtsperioden spiegelt das iranische politische System die Spaltung der Gesellschaft wider. Hielten die Konservativen mit dem Wächterrat, dem Sicherheitsapparat, den staatlichen Medien und mit Ali Chamenei, dem geistlichen Führer des Landes, die wichtigsten Positionen, so hatten die Reformer das Parlament und mit Muhammad Chatami das Amt des Präsidenten inne. Chatamis Amt steht allerdings nächstes Jahr zur Wahl und es wird erwartet, dass dieser Posten dann ebenfalls in die Hände der Konservativen fallen wird. Damit wäre die politische Dualität des iranischen Systems aufgehoben.

Das bedeutet aber nicht, dass die Widersprüche innerhalb der iranischen Gesellschaft aufgehoben sind. „Wir werden in Zukunft einen kalten Krieg zwischen Reformern und Konservativen erleben – und das nicht innerhalb der politischen Strukturen. Das zukünftige Schlachtfeld wird nicht die Politik, sondern die Gesellschaft sein“, glaubt Schamsolväzin. Dabei werde keine Seite in der Lage sein, die andere zu besiegen, und beide müssten sich wohl oder übel arrangieren.

Liberale iranische Intellektuelle bezeichnen es als „stillen Widerstand“, wenn sie sich parallele Strukturen zum Staat schaffen und im Privaten ihre sozialen Freiheiten ausleben. „Die liberalen Iraner sind schizophren. Wenn wir zu Hause im Sessel sitzen, philosophieren wir über Reformen, und wenn wir tagsüber draußen sind, bestimmen die Konservativen unseren Alltag“, sagt Schamsolväzin. „Vielleicht waren die letzten Siege der Reformer eine Frühgeburt“, sagt er weiter. Die Reformer hätten sich nur auf „Luxusgüter“ wie soziale Freiheiten konzentriert und die Wirtschaft vergessen. Außerdem hätten sie versäumt, eine wirkliche politische Machtbasis im Land aufzubauen.

Wirtschaftlich verfügen die Konservativen, die von den Bazaris, den traditionellen Großhändlern, unterstützt werden und den Ölsektor kontrollieren, über eine wesentlich stärkere Basis. „Die Reformer haben alle moderne Institutionen inne, einige Zeitungen, akademische Institute und regierungsunabhängige Organisationen. Die bringen kein Einkommen, sondern kosten Geld“, sagt Schamsolväzin. Er gibt den Konservativen Recht, wenn sie den Reformer vorwerfen, sie hätten in den letzten Jahren Fragen wie Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsmangel und Preissteigerungen vernachlässigt.

Aber auch die Konservativen haben trotz ihrer Rückeroberung des Parlaments keinen unbegrenzten Spielraum. Die Stärke der Reformer ist, dass die Hälfte der Bevölkerung und 70 Prozent der Wahlberechtigten in der Hauptstadt nicht wählen gegangen sind, weil sie sich nichts mehr vom Parlament erwarten. Das ist eine Gruppe, die Veränderung wünscht, und die auch eine konservative Mehrheit im nächsten Parlament nicht ignorieren kann. Muhammad Ali Abtahi, religiöser Reformgelehrter und Vizepräsident, fasst das so zusammen: „Auch wenn die Reformer jetzt bei den Parlamentswahlen verloren haben, die Konservativen können den Reformdiskurs der letzten Jahre nicht mehr ignorieren.“ Das, sagt er, „ist der wahre Erfolg der Reformer“.

Schamsolväzin erwartet eine Spaltung zwischen jenen Konservativen, die an ihren religiösen Prinzipien festhalten, und jenen, die pragmatisch am Machterhalt interessiert und dadurch zu Zugeständnissen im Bereich sozialer Reformen bereit sind. Letztere werden die Mehrheit der neuen Parlamentarier ausmachen. Vorstellbar sind deshalb Widersprüche zwischen einem pragmatisch-konservativen Parlament und dem ideologisch-konservativen Wächterrat.

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