Die Behauptung der Einzahl

Die Außenwelt der Innenwelt: Riki von Falkens neues Tanzstück „One more than one“ im Theater am Halleschen Ufer

1995 komponierte Steve Reich „City Life“ für Flöten, Oboen, Klarinetten, zwei Klaviere und Samples aus den Rufen von Straßenverkäufern, Demonstranten und Feuerwehrmännern, aus Autohupen, knallenden Türen, Herzschlägen und Sirenen. Diese Musik flirrt im Raum und beschreibt ihn dicht mit akustischen Signalen wie das All-Over der Malerei in einem Bild von Jackson Pollock, wenn die Tänzerin Riki von Falken ihr neues Stück „One more than one“ beginnt. Der Klang breitet sich aus, ergießt sich durch die Straßen, regnet an Fassaden herab, stürzt sich in den Untergrund der Stadt und ist ohne Ende. Ihre Figur dagegen, schmal, bleich und zurückhaltend, behauptet sich vor dieser Vielzahl der Stimmen und Richtungen mit großer Konzentration in der Einzahl. Hier bin ich und suche meinen Weg.

Am Anfang rührt sie sich mit den Füßen kaum vom Fleck. Ihre Arme fliegen wie Kinderschaukeln, die Fingerspitzen zeichnen Kreise, Spiralen und Achten, parallel und gegenläufig, in die Luft. In diesen präzisen Linien liegt eine große Kraft. In ihnen findet der erste Austausch zwischen der Spannung innen und der außen statt. Sie nehmen den Raum in seiner ganzen Ausdehnung wahr. Später, die Musik hat dann zu Kompositionen von Heiner Goebbels und Beat Furrer gewechselt, verlässt die Tänzerin den Mittelpunkt des Raumes und nimmt die ganze Fläche in schnellen flachen Zickzacklinien und in Umschreibung des äußeren Rahmens in Besitz.

Der Titel „One more than one“ ist einer Skulptur von Eva Hesse von 1967 entliehen, in der aus einem Block mit Vertiefungen an der Wand zwei Kordeln wie zufällig und scheinbar nur vom eigenen Gewicht geformt herabhängen. Tatsächlich weisen die klaren Raumkonzepte in der Arbeit der Choreografin Riki von Falken meistens eine große Nähe zur Skulptur und Architektur auf. Auch ihre Klassen für Modern Dance im Dock 11 und in der Tanzfabrik werden sicher nicht zufällig von vielen Kunststudentinnen besucht. Ihre Stücke entstehen dort, wo der innere Raum der Selbstwahrnehmung und der Blick nach außen zusammentreffen.

Dabei hat das, was einmal die abstrakten Formen des Modern Dance waren, in ihren Stücken mehr und mehr einen sehr persönlichen Zuschnitt erhalten. „One more than one“ ist der letzte Teil einer Trilogie; auch die vorausgegangenen Solos „White Linen“ und „Wach“, ebenfalls im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt, folgten einem biografischen Subtext. Sie durchquerten Situationen, in denen das Leben sehr fragil und verletzbar erschien und für die Begegnung mit der Außenwelt kaum noch Kraft übrig war. In „One more than one“ sind diese Momente noch gegenwärtig, jetzt aber eingeschlossen wie Miniaturen in Bewegungen des Aufbruchs.

Manchmal mischen sich Gesten, die symbolisch scheinen, in den Tanz. Eine Hand markiert die Linien zwischen den Schultern und längs der Wirbelsäule, und das sieht aus wie das Schlagen eines Kreuzes. Es ist eine anatomische Markierung, die der kürzesten Verbindung zwischen Schädel und Schoß folgt, zwischen Lust und Schmerz. Andere Bewegungen setzen als Umarmungen an, die in die Leere fassen und zuletzt nur sich selbst als Halt finden.

Riki von Falken ist nicht die Einzige, die das Material der Avantgarden im Tanz und in der Musik auf eine Weise transformiert, dass es nicht nur mit Geschichten von existenziellen Situationen gefüllt werden kann, sondern zugleich auch seine eigene Historizität gewahr werden lässt. Erleben konnte man das bisher vor allem bei Gastspielen im Hebbeltheater von amerikanischen Performern und Komponisten. Die Aufführungen geraten immer mehr zu Porträts ihrer Performer. Das ist eine unvorhergesehene Entwicklung in der Geschichte von Abstraktion und Minimalismus. Mit der Zeit erhalten sie eine Lebendigkeit, die man ihnen durch die Konzentration auf die Form nicht zugetraut hätte.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„One more than one“. Theater am Halleschen Ufer, am 26. u. 27. 4., 20 Uhr