Milli Görüș wieder hoffähig

In einem Schreiben des türkischen Außenministeriums an die Botschaften wird gefordert, die islamistische Gruppe nicht länger zu isolieren. Türkischer Bund fürchtet Probleme für Integration

von CEM SEY

Ein Rundschreiben der islamisch geprägten türkischen Regierung an ihre Botschaften im Ausland bringt die diplomatischen Vertreter des Landes in Verlegenheit. Außenminister Abdullah Gül forderte sie auf, die umstrittene Migrantenorganisation in Europa, Milli Görüș, in Zukunft nicht mehr zu ignorieren. Milli Görüș wird in Deutschland bis heute als „nicht gewaltorientierte islamistische Organisation“ vom Verfassungsschutz beobachtet. Die türkischen Behörden übten jahrelang Druck auf die Bundesregierung aus, den Auslandsableger der fundamentalistischen Bewegung von Necmettin Erbakan zu verbieten.

Osman Korutürk, der türkische Botschafter in Berlin, lehnt jegliche Stellungnahme zu der plötzlichen Gratwanderung mit der Begründung ab, es handele sich ja schließlich um ein geheimes Dokument des Staates. Er verordnete auch seinen Mitarbeitern Schweigen.

Doch das Geheinmnis ist längst bekannt. Seit Tagen wird in der türkischen Presse aus dem Rundschreiben zitiert. Führende Zeitungen des Landes kritisieren die Anweisung vor allem deshalb, weil Milli Görüș noch vor einigen Wochen in einem gemeinsamen Protokoll des Bundesinnenministers Otto Schily und seinem türkischen Amtskollegen als eine extremistische Organisation bezeichnet wurde. Auch die mächtigen Militärs reagierten wütend und kritisierten diesen Schritt in der Öffentlichkeit.

Das eiserne Schweigen des Botschafters löst indessen in Berliner diplomatischen Kreisen Mitleid aus. Der überzeugte Laizist sei im Moment „ratlos“ und habe „Gewissensprobleme“. Denn bis vor kurzem musste seine Dienststelle Berichte über Milli Görüș verfassen und nach Ankara schicken.

Über die Folgen dieser „Dienstanweisung“ aus Ankara sorgen sich auch die bisherigen „anerkannten Vertreter“ der türkischen Gemeinden in Deutschland. Safter Çinar, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, weist auf die Berichte des Verfassungsschutzes hin. „Islamismus, der grundsätzlich den demokratischen und sekulären Rechtsstaat nicht anerkennt, ist keine Position, die der Integration förderlich ist“, sagte er. „Wenn jetzt eine solche Organisation von der Ebene des türkischen Staates aufgewertet wird, kann das dazu führen, dass solche Ansichten mehr Auftrieb bekommen.“

Auf jeden Fall wird erwartet, dass die türkische Botschaft in Zukunft auch die Aktivisten von Milli Görüș zu Festakten einlädt. Dass die Meinung von Milli Görüș zu den Problemen der in Deutschland lebenden Türken eingeholt wird, erscheint den Beobachtern ebenfalls wahrscheinlich. Dann dürften sie offiziell auch ein Statement zum Islamunterricht in Berliner Schulen abgeben.