Die Lückenbüßer von Abu Dis

„Ich bin angestellt und mache meinen Job“, sagt Bauleiter Schalom. „Wenn ich es nicht mache, kommt ein anderer“

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Lange können die drei Freunde die Aussicht nicht mehr genießen. Sie sitzen in der Sonne, trinken Tee und blicken auf das Panorma von Jerusalem. „Nenn mich Abu Samir“, sagt der braun gebrannte Endfünfziger mit der weißen Strickkappe auf dem Kopf. Er besucht seinen Freund Jussuf und dessen Vetter Abu Hassan, der im Nachbarhaus lebt. Jussufs kleines Haus, vor dem die Männer sitzen, liegt in Abu Dis, einem palästinensischen Vorort auf einer Anhöhe, zu deren Füßen sich Jerusalem erstreckt. Doch langsam schließt sich der Vorhang auch vor Jussufs Haus. Rechts und links wächst eine riesige Betonmauer aus dem Boden. Wenn sie fertig ist, werden es von Jussufs Haustür bis zu der acht Meter hohen Betonwand nur ein paar Schritte sein.

Rund einen halben Kilometer zieht sich das gespenstische Bauwerk in Schlangenlinien den Hügel weiter hinauf Richtung Bethlehem. Nur noch die 50 Meter vor Jussufs Haus fehlen, dann ist die Mauer vollendet. Die Betonwand läuft entlang einer der Hauptstraßen von Abu Dis, bald wird die Tankstelle auf der einen Seite sein, der Taxistand, der Gemüseladen und das Sanitärgeschäft auf der anderen.

Abu Samir ist schon vor einem Jahr aus Abu Dis weggezogen. „Ich musste“, sagt er und erklärt, dass er sonst seinen Jerusalemer Ausweis hätte abgeben müssen. Dieser Ausweis ist ein wichtiges Papier. Nur mit ihm können sich die Palästinenser in der Stadt bewegen und an den Checkpoints vorbei zu ihrer Arbeit kommen. Mit dem Ausweis ist sogar eine Anwartschaft auf die israelische Staatsangehörigkeit verbunden. Doch das gilt nun nicht mehr für jene, die hinter der Mauer leben, der neuen, von Israel völlig willkürlich festgelegten Grenze zum Palästinensergebiet. Wer dahinter wohnt, gilt als Palästinenser wie jeder andere und hat keinen Anspruch mehr auf das Papier. Abu Samir lebt heute wieder mit seiner siebenköpfigen Familie in der Altstadt Jerusalems. Sie sind wieder in die alte Einzimmerwohnung am Damaskustor eingezogen. „Ich arbeite in Jerusalem. Wir müssen schließlich essen“, sagt Abu Samir lächelnd und scheinbar ohne Verbitterung. Wenn die Mauer erst einmal fertig ist, wird Abu Samir nicht einmal mehr seine früheren Nachbarn besuchen können.

Dass da überhaupt noch eine Lücke klafft, liegt an Walid Ayyad, dem das Cliff-Hotel gehört, etwa 20 Meter von Jussufs Haus entfernt. Er hat gegen den Mauerverlauf geklagt, und das Gericht muss nun entscheiden, ob vor oder hinter dem Hotel gebaut wird. Bis zu dem Urteil liegt die Baustelle still. Warum Jussuf selbst nicht vor Gericht gezogen ist? „Ich bin ein kleiner Beamter“, sagt der Mann mit dem schütteren Haar bescheiden und zwinkert hinter seiner Brille. „Ich verdiene nicht genug, um einen Anwalt zu bezahlen.“ Jussuf arbeitet als Wachmann in der Al-Kuds-Universität. Als er vor zwei Wochen im Jerusalemer Rathaus war, um Wasser und Strom zu bezahlen, habe der Beamte erstaunt auf seine Gehaltsabrechnung geguckt und ihn gefragt, wie er mit so wenig Geld auskomme, erzählt er in die Runde.

Die drei überlegen, wie weit Jussuf und Abu Hassan künftig fahren müssen, um ihre Rechnungen bei der Stadt zu bezahlen. Bethlehem wäre der nächste Ort. Fünf bis sechs Kilometer sind es bis dahin – ein absurder Gedanke; Abu Dis, obwohl Vorort, gehört noch zum Jerusalemer Stadtgebiet. Abu Hassan, der jüngste der drei Männer, der kaum zwei Minuten stillsitzen kann, greift plötzlich ein Glas Tee und läuft zu einem vor dem Hotel haltenden Geländewagen. Nach zwei Minuten fährt der Wagen eine Runde und parkt vor Jussufs Haus. Im Auto sitzt Schalom, er ist einer der israelischen Bauleiter für die Mauer. Die Männer kennen sich, sind freundlich. Schalom – braun gebrannt, jung, sportlich – nimmt die Sonnenbrille ab und trinkt mit Tee. Aber er bleibt dabei im Wagen. Er hat noch zu tun, prüft Karten, telefoniert.

Schalom hat zu dem Mauerbau keine Meinung: „Ich bin angestellt und mache meinen Job“, sagt er. „Wenn ich es nicht mache, kommt ein anderer.“ Jussuf und seine Freunde geben ihm Recht. Im Grunde spiele es keine Rolle, wer die Mauer baut. Auch dass Schaloms Arbeiter selbst Palästinenser sind, kann Abu Hassan verstehen. „Sie haben keine andere Arbeit und müssen Geld verdienen, um ihre Familie zu ernähren.“ Rund zehn israelische Privatfirmen sind derzeit vom Verteidigungsministerium beauftragt, die Trennanlagen zu errichten. Die meisten der Bauunternehmen beschäftigen sowohl Palästinenser als auch israelische Araber. Berichte, der für die Mauer benutzte Beton werde von einer Firma geliefert, an der Ahmed Kurei, der palästinensische Premierminister, beteiligt sein soll, halten die drei Freunde für „unwahrscheinlich“. Schalom sagt nur, das Baumaterial werde von einem „palästinensischen Unternehmenspartner“ geliefert. Abu Hassan zuckt mit den Schultern: „Sie sind doch alle gleich.“ Er hat nur noch wenig Vertrauen in die palästinensische Führung.

„Make Love – No Wall“ steht an der Mauer gleich neben dem Cliff-Hotel. Noch können die Leute, vor allem die Studenten, die in Ostjerusalem wohnen, hier von einer Seite zur anderen laufen. Zwei große Universitätsgebäude, die mehrere Institute der Al-Kuds-Uni beherbergen, liegen in Abu Dis und damit schon bald hinter der Mauer. Dorthin will auch Walid Ayyad. Vor sechs Monaten bekam der Hotelier den Bescheid des Verteidigungsministeriums, die Mauer werde hinter dem Cliff verlaufen. Für Ayyad, der Palästinenser ohne Jerusalemer Ausweis ist, aber würde es den Verlust des Hauses bedeuten, wenn das Gebäude auf der israelischen Seite der Mauer zu liegen käme. Also klagte er.

„Wir haben das Hotel komplett neu renoviert“, sagt er stolz und führt durch den mit Marmor ausgelegten Eingang zur Rezeption und in die oberen Stockwerke, die zum Teil noch unverputzt sind. Das Hotel hat einen Vertrag mit der Universität, die meisten Gäste, vor allem seit Beginn der Al-Aksa-Intifada, unterrichteten in den Außenstellen der Hochschule in Abu Dis. Heute hat Ayyad nur noch ein Zimmer vermietet. Da das Cliff-Hotel offiziell bereits zu Jerusalem gehört, darf er keine Palästinenser mehr aufnehmen. Hischam al-Jassem, ein Historiker, der seit über 20 Jahren in Kanada lebt und einen kanadischen Pass hat, schlurft im Trainingsanzug durch die leeren Gänge. „Wir waren insgesamt 40 Professoren. Alle außer mir mussten vor sechs Wochen ausziehen“, erzählt er. Die Universität habe ihm ein anderes Hotel in Jerusalem angeboten, „aber ich bleibe“, sagt al-Jassem, „und zwar auch, damit die Israelis das Haus nicht übernehmen“.

Hotelier Ayyad geht es nicht grundsätzlich um die Teilung: „Ich verliere hunderte Quadratkilometer Land auf der anderen Seite“, erklärt er. „Bitte sehr. Aber hier will ich in Ruhe gelassen werden. Hier geht es um mein Geschäft. Das ist das Wichtigste.“ Dass die Mauer ewig bleiben wird, glaubt er nicht. Aber ebenso wenig vertraut der Endfünfziger darauf, dass „ich den Abriss noch erleben werde“. Der Gerichtstermin wegen seiner Klage ist noch offen. Ayyad, genauso wie Nachbar Jussuf, ist das nur recht.

„Schalom, wann wollt ihr weiterbauen?“, ruft Jussuf dem noch immer in seinem Geländewagen sitzenden Bauleiter zu: „Nächsten Sonntag, aber nur bis dort.“ Schalom deutet auf einen Punkt kurz vor dem Hotel. Mit dem Ausblick auf Jerusalem ist es dann auf Jussufs Terrasse vorbei. „Dann müssen wir eben aufs Dach ziehen“, meint Abu Hassan. Ob sie glauben, dass die Mauer je wieder abgerissen wird? „Wer könnte so was wieder wegräumen“, meint Jussuf jetzt doch niedergeschlagen. „Ich wäre sofort dabei“, mischt sich Schalom in das Gespräch. „Das würde ich viel lieber tun, als die Mauer zu bauen.“