Der Illusionenverkäufer


„Man hat mich ‚Phantasma aus der Vergangenheit‘ genannt. Aber das ist falsch, ich bin fantastisch“

von INGO MALCHER

Für das Gruppenbild mit ihm halten sich die Männer eine Hand vor ihr Geschlecht. Das soll Pech fern halten. Aber es sieht auch komisch aus: Sechs abergläubische Provinzpolitiker Arm in Arm mit ihm, und alle stehen da wie verängstigte Fußballspieler in der Mauer kurz vor dem Freistoß. Auch in die Augen schauen sie ihm nicht. Das bringt ebenfalls Unglück. Also muss man ihm aufs Kinn gucken oder auf den Krawattenknoten. Sogar seinen Namen zu nennen kann Unheil bringen. Besser man spricht nur von „ihm“, nennt ihn den „Chef“ oder „Menendez“. In Wirklichkeit heißt er: Carlos Saúl Menem – von 1989 bis 1999 Präsident Argentiniens.

Er hat noch lange nicht genug. Bei der Wahl am Sonntag will der 72-Jährige zum dritten Mal die Präsidentschaft Argentiniens erkämpfen – die „historische Präsidentschaft“ soll es werden. Das ist kein aussichtsloses Unterfangen. Seine Partei, die peronistische Partido Justicialista, ist gespalten. Drei Kandidaten, die sich spinnefeind sind, treten gegeneinander an. Wer am Ende Sieger nach Punkten wird, ist reines Glück. Aber Menem lässt nichts unversucht. Er betreibt den Wahlkampf wie im Fieber, füllt Fußballstadien, frühstückt mit Unternehmern und tourt durch die Provinzen.

Catamarca im Nordwesten Argentiniens ist trist. Die Landschaft ist eine trockene Wüste, im Osten wachsen Zitronen und Orangen, sonst gibt es kaum etwas außer Oliven und abgegrasten Kuhweiden. Die Hauptstadt San Fernando del Valle de Catamarca zählt 300.000 Einwohner. Von zwölf Uhr mittags bis vier Uhr nachmittags bewegen sich auf der Plaza gegenüber dem kolonialen Gouverneurpalast nicht einmal die Fliegen. Die Provinz lebt von der Landwirtschaft, viele Kleinbauern bestellen hier ihre Parzellen mit primitivsten Methoden. Catamarca gehört zu den ärmsten Provinzen des Landes. Allein die Gouverneursfamilie Saadi hat es zu ansehnlichem Reichtum gebracht. Auch in der nationalen Politik mischen sie mit – immer im Windschatten von Menem.

Bei sich zu Hause stellt Gouverneur Ramón Saadi Menem die Abordnung der Provinzperonisten vor, die sich später beim Gruppenfoto mit ihm schützend die Hand vor ihre Hoden halten. Nicht allein deswegen muss ihm die Reise ins staubige Hinterland schwer fallen. Menem hält sich für einen großen Staatsmann, dessen Spielstätte die Weltpolitik ist – nicht das Provinztheater. Schließlich war es für ihn hart genug, erst neun Jahre in seiner Heimat, der abgelegenen Provinz La Riocha, als Gouverneur zu walten, ehe er sich von dort aus das Präsidentenamt erstritt. Jetzt muss er wieder über holprige Landstraßen fahren, um Stimmen zu gewinnen. Aber ohne eine Basis in der Provinz ist in Argentinien keine Wahl zu gewinnen.

Doch schon Menems Garderobe sagt: Hier gehöre ich nicht hin. Er trägt einen modernen Anzug aus englischem Tuch, im Revers steckt das Seidentuch passend zur Krawatte, sein Hemd wird an den Ärmeln von goldenen Manschettenknöpfen zusammengehalten. Deutlicher könnte der Gegensatz zu seinen lokalen Verbündeten kaum sein. Neben ihm sehen sie aus wie wilde Desperados. Die Provinzperonisten riechen nach Schweiß, haben die Hemdsärmel über die Ellbogen gekrempelt und hauen ihm zur Begrüßung fest auf die Schulter.

Menem redet davon, dass sich in Catamarca Agrokonzerne niederlassen werden, wenn er erst einmal wieder Präsident ist, und dass die Campesinos dann ihre Felder „mit Internet“ bestellen werden. Schade nur, dass kaum einer von ihnen überhaupt elektrischen Strom zu Hause hat.

Aber Menem ist ein brillanter Verkäufer von Illusionen. Als Präsident hat er unermüdlich gepredigt, dass Argentinien schon bald „zur Ersten Welt gehören wird“. Einkaufszentren nach US-Muster waren sein Beweis. Wie kein anderer Präsident in Lateinamerika setzte er die Rezepte aus dem neoliberalen Zauberbuch in die Praxis um. Alle Staatsunternehmen wurden privatisiert, von der Telefongesellschaft bis zum Ölkonzern, von der Fluggesellschaft bis zur Zollabfertigung.

Dabei leer ausgehen wollte er offenbar nicht. Gegen 23 Minister und hohe Funktionäre seiner Regierung laufen Verfahren wegen Korruption. Er selbst stand nach Ende seiner Amtszeit wegen eines illegalen Waffengeschäfts über fünf Monate unter Hausarrest, wurde aber schließlich freigesprochen – von einem Richter, den er noch persönlich ernannt hatte.

Bis 1999, solange er Präsident war, hatte er die Justiz im Griff. Sein Innenminister schrieb einem Unternehmer beim Mittagessen einmal die Namen jener obersten Richter auf die Serviette, die Menem gehorchten. Es war die Mehrheit. Der Präsident fühlte sich sicher und lachte über seine Feinde. Er lachte auch über die Kritiker seiner Währungspolitik. Im Jahre 1992 kettete er den argentinischen Peso im Wechsel eins zu eins an den US-Dollar, um die Inflation zu bremsen. Damit gelang ihm ein Wirtschaftsaufschwung. Einerseits. Andererseits war es ein Aufschwung auf Pump, denn Menem gelang es nicht, einen durchgehenden Haushaltsüberschuss zu erwirtschaften. So stopfte er die Löcher mit geborgten Dollars, in nur zehn Jahren verdoppelte er die Schulden Argentiniens von 60 auf 120 Milliarden Dollar. Die nationale Industrie wurde abgewürgt, da Importprodukte billiger waren als „Made in Argentina“. Als Menem im Jahr 1999 verfassungsgemäß abtrat, war Schluss mit der Stabilität – aber das Unheil kam erst nach ihm über das Land.

Im Dezember 2001 stürzte Menems Nachfolger Fernando de la Rúa über die blockierte Wirtschaft. In den 14 Tagen danach wurden vier Präsidenten aus dem Amt gejagt, Demonstranten legten Feuer im Nationalkongress, Supermärkte wurden geplündert. Tage später musste sich Argentinien bei seinen privaten Gläubigern zahlungsunfähig melden und den Peso abwerten. 53 Prozent der Argentinier gelten als arm.

Auf einer Straße in der Provinz von Buenos Aires. Die Wagenkolonne des Kandidaten ist kurz vor dem Ort Los Polvorines. In einem Begleitfahrzeug bittet ein Mitarbeiter Menems den Fahrer darum, die Türen des Wagens zu verriegeln und bei keiner roten Ampel mehr zu halten. Es ist bereits dunkel, hinter den getönten Fensterscheiben ziehen leer stehende Fabriken vorbei, der Wagen überholt die Pferdefuhrwerke der Müllsammler.

Schon weit vor dem Stadion von Los Polvorines blockieren parkende Busse den kleinen Ort. Es sind über 10.000 Menschen, die Menem ankarren ließ, ihm zuzujubeln. Zehn Peso bar auf die Hand kriegt jeder dafür, der ihm auf Wahlkampfveranstaltungen applaudiert. Die Kundgebungsregie ist perfekt. Es gibt gegrillte Würstchen und Cola, auf einer Bühne im Stadion heizt eine Salsa-Band die Stimmung an. Dann tritt ein Zeremonienmeister ans Mikrofon. „Liebe Compañeros und Compañeras, er ist schon unter uns, Carlos Menem kam gerade an und ich kann euch sagen, wir sind schon 25.000 hier im Stadion.“ Menem wartet noch. Die Band spielt ihren Renner: „Carlos, komm zurück!“

Der Sänger verabschiedet sich mit den Worten: „Dass das klar ist, Carlos Menem ist der einzige Chef, den ich habe.“ Fanfaren setzen ein. Ein Spot erhellt die Bühne: der Einmarsch des Giganten. Menem grüßt mit dem Handrücken. Das Publikum tobt, der Bürgermeister des Ortes lässt sich mit ihm fotografieren und hält sich die Hand vor die Hoden.

Aber Menem ist guter Dinge. Er ruft: „Wir werden es allen zeigen, die uns beschimpfen, und im ersten Wahlgang siegen.“ Pause. Wieder Fanfaren. Donnernder Applaus. „Man hat mich als Phantasma der Vergangenheit bezeichnet, aber das ist falsch, man wollte sagen, ich bin fantastisch.“ Pause. Fanfaren. Donnernder Applaus. „In diesem Jahr wurden schon 20.000 Autos in Argentinien gestohlen, in 40 Prozent der Fälle wurde dabei jemand ermordet, wollt ihr ein solches Argentinien? Dann wählt die anderen!“ Pause. Fanfaren. Donnernder Applaus. In einer halben Stunde geht es einmal quer durch sein Programm: Das Militär soll Kriminelle jagen, die Löhne der Arbeiter sollen erhöht, die Schulden bezahlt werden. Und am Ende: „Ich liebe euch, Gott segne euch.“ Weg ist er.

Sein Ego verbietet es ihm zu glauben, dass er Pech über die Leute bringt. Doch als Präsident durfte er bei den Spielen der Fußballnationalmannschaft nicht ins Stadion und während der zehn Jahre seiner Regierung hat Argentinien keinen einzigen WM-Titel geholt.

Sein hohes Alter kompensiert er durch seine zweite Frau Cecilia Bolocco. Die Chilenin und frühere Miss Universum ist 35 Jahre jünger als der 72-jährige Kandidat – eine schöne junge Frau, so wie Evita, die Frau des legendären argentinischen Staatsmannes Juan Domingo Perón. Auch politisch versteht er es wie kein anderer, sich das Image des Siegers zu geben. Er empfiehlt sich als Retter aus der Krise, die er selbst geschaffen hat.

Carlos Menem muss das Präsidentenamt haben, er liebt sich selbst am meisten in der Rolle des Mächtigen. Deshalb hält er durch, deshalb quält er sich in Los Polvorines mit krummem Rücken die Treppen zur Bühne hoch, und wenn er sich verhaspelt, spricht er weiter. Dennoch wirken die Gesichtszüge des Alten steif, als trage er eine Maske.

Nach dem Abend in Los Polvorines sitzt er anderntags im Fernsehstudio bei dem Starmoderator Mario Grondonda. „Es gab viel Korruption während Ihrer Regierung, Doktor Menem.“ – „Nein, Mario, es gab bei mir weniger Korruption als unter meinen Nachfolgern.“ Und die hohen Staatsschulden? „Habe ich immer bezahlt, es waren meine Nachfolger, die nicht gezahlt haben.“ Und die Armut? „Als ich mein Amt verließ, war sie bei 24 Prozent, heute ist sie bei 53 Prozent. Wie kann man mich da beschuldigen, ein schweres Erbe hinterlassen zu haben?“ Schuld sind die anderen – auch das eine Illusion. Dabei hat er es im Jahr 1992 in einem Fernsehinterview selbst gesagt. „Die Völker, die ihre eigene Geschichte vergessen, belasten ihre Gegenwart und verkaufen ihre Zukunft.“