Sinnliche Spuren

Viele Antworten auf eine Frage: „Context – Plattform für zeitgenössischen Tanz im HAU“ begann mit Gastspielen aus Frankfurt, Paris und London. Der pure und weiche Tanz von Russell Maliphant leuchtete dabei am schönsten

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Kandidat wird reingelegt. Nur eine Antwort darf er wählen, und das kann nur falsch sein. „Was ist Tanz“, fragt der Meister der Gameshow, in die sich die Performance „The How Episode“ allmählich verwandelt hat, und stellt vier Alternativen als sich ausschließende Antworten vor: a) eine einstudierte Bewegung, b) eine freie Bewegung, c) eine zwanghafte Bewegung, d) gar keine Bewegung. Alles zusammen, meint der Kandidat, und fast jeder im Publikum im kleinen HAU drei gibt ihm Recht. Nur der Quizmaster nicht, der in diesem Moment die Regeln macht.

Einer macht die Regeln, und schon läuft die Sache schief. Die Performance „The How Episode“, die zum Eröffnungsprogramm des Tanzfestivals „Context“ in den HAU-Theatern gehörte, schien das seltsame Ziel zu verfolgen, diese Schieflage auszustellen. Zwei Formate konkurrierten um die Aufmerksamkeit des Zuschauers: die Show mit Publikumsbeteiligung und der improvisierte Tanz, entwickelt von Prue Lang, Nicole Peisl und Richard Siegal, die in Frankfurt zum Ensemble der Forsythe-Tänzer gehören. In dem ersten Format lenkt die Stimme des Showmasters die Aufmerksamkeit und manipuliert geschickt, was wir zu sehen meinen. In dem zweiten Format dagegen ist die Aufmerksamkeit ständig gestreut, zersplittert zwischen vier Tänzern, die Bewegungsimpulse untereinander weitergeben: Sie verzichten auf jede Autorität und Deutungshoheit. So glich „The How Episode“ einem hinterlistigen Experiment, das den Fokus ständig dahin schob, wo es etwas zu gewinnen und verlieren gab, auch wenn man entschieden mehr mit denen sympathisierte, die wie die Tänzer mit uneindeutigen Formulierungen umgehen.

Tanz als „zwanghafte Bewegung“: So könnte man „Chantier Musil“ (Baustelle Musil) überschreiben. Das Team um den Choreografen François Verret stammt aus Paris. Signifikanter Teil der Aufführung ist das Bühnenbild von Claudine Brahem, ein Gerüst aus mehreren Ebenen, bis in gefährlich scheinende Höhen betanzbar. Gewichte sausen herab, gespannte Stahlseile verstellen den Raum mehr und mehr, und der Tanz gleicht zunehmend einem existenzialistischen und manischen Rasen gegen die Einengung der Existenz. Dazu sieht man als Lichtbild eine Zeichnung, die sich ständig verändert, von Häusern, von Menschen, von Dunkelheit; ihre Oberfläche wird immer wieder neu überschrieben. Textauszüge von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ fließen ein und belegen die visuellen Ebenen mit illustrativer Bedeutung. Dabei verliert man den Überblick. Tänzer gehen zwischen den Ebenen des Gerüsts ebenso wie zwischen der symbolischen Überfüllung verloren.

Tanz als „freie Bewegung“, losgebunden vor allem von einstudierten Codes, zeigte dagegen die Russell Maliphant Company aus London in drei kurzen Stücken: Solo, Trio und Quintett. Das Licht von Michael Hulls ließ im Dunkel der Bühne oft nur die Konturen des Körpers leuchten oder erfasste gar nur die Ränder der weit ausgreifenden Bewegung. Gerade dadurch aber schienen Hände, Ellbogen, Schultern eine Spur zu ziehen, die auf der Netzhaut immer noch einen Moment stehen blieb, sodass die in den Raum geschriebenen Linien sich wie eine fragile Kalligrafie entwickelten.

Russell Maliphant selbst tanzte ein 15-Minuten-Solo zu Bachs Goldberg Variationen. Der dunkle Raum selbst wurde weich wie Seide, in den er sich in sanften Spiralen und Bögen immer tiefer hineinwickelte. In seinen Bewegungen glaubte man das Echo von Wind und Wasser wiederzufinden, ein pulsierender Wechsel zwischen dem Unvorhersehbaren und dem Folgerichtigen.

Maliphant war Balletttänzer in der Sadler Wells Company, bevor er sich dem zeitgenössischen Tanz zuwandte. Er hat die gebundene Form des Balletts nicht vergessen, aber in einen weicheren und durchlässigeren Fluss verwandelt. Auch in dem Quintett „Choice“ zu indisch durchsetzten Ambient-Klangflächen hat das Ballett seine Spuren hinterlassen in den Symmetrien der Paare, in den kompositorischen Folgen von Solo, Fünferbild, Duo und Trio. Doch so abstrakt die Ordnungen scheinen, sie sind von einer großen sinnlichen Schönheit durchdrungen.

Mit diesen unterschiedlichen Stücken startete das Festival „Context – Plattform für zeitgenössischen Tanz“, Nachfolge des bisherigen „Tanzwinters“. Die Namensänderung ist programmatisch, die eingeladenen Gastspiele werden in Gespräche über Theorien eingebettet. „Über Autorschaft“ ist das erste Thema, das in den Stücken von Emil Hrvatin/Bojana Cvejic, Martin Nachbar, Martin Spangenberg und Jérôme Bel diese Woche verhandelt wird. Doch der Beginn war einfach nur disparat; es gibt eben nie nur eine Antwort auf die Frage „Was ist Tanz?“.

Bis 28. 2., in den HAU-Theatern, Stresemannstr. 29, Kreuzberg