Na, dann kehr halt die Kreuzung!

Was braucht es im Frühjahr? Nagelneue Epik oder Noch mehr Bauarbeiterprosa

Ich stand in einer Staubwolke, die ein gehirnamputierter Halbstarker vor mir produzierte

Vor dem Betonquader der Baufirma wartete eine kleine multikulturelle Bauarbeitertruppe, die mich mit freundlicher Zurückhaltung als neuen Bauhelfer begrüßte. Quietschend ging die Glastür des Verwaltungsbunkers auf, und zwei kerndeutsche Gestalten drifteten heraus. Ein älterer Polier, der wie aufgepumpt in seinem blauen Habit steckte, sowie ein Jungspund mit standesgemäßem Maurerdress: schwarze Trompetenhose, schwarze Weste, schwarzer Cowboyhut.

Mit dreckverkrusteten Schuhen stiegen jetzt alle Umstehenden in einen uralten VW-Bus, den der Michelin-Mann im Schneckentempo durch den morgendlichen Berufsverkehr in Richtung Baustelle kutschierte. Die Zeit lief, und das hieß schon mal: Geld verdient – eigentlich ja prima!

Doch der Vorzeigemaurer hatte sich dummerweise nicht in die Führerkabine, sondern zu uns gesetzt und begann die ohnehin schale Atemluft durch Nazi-Geschwätz zu verdicken. Ich kannte freilich diesen Schäferhundetyp von Mensch gut genug, um ihm mit eisernem Schweigen zu begegnen. Blondi probierte es sicherheitshalber noch mit schweinischen Witzen, bevor er klobrillenscharf diagnostizierte, dass ich zu diesen „was Besseres sein wollenden Intellektuellen“ gehörte, die er zum Kotzen fand. Zum Glück ging jetzt der Motor aus und die Schiebetür auf: Der Michelin-Mann rief mit dem Gesichtsausdruck eines in Milch eingeweichten Brötchens zur Arbeit. Ein Zehnfamilienwohnblock wartete darauf, dank meiner Mithilfe horrible Gestalt anzunehmen.

Die Suche nach dem passenden Paar Sicherheitsschuhe für mich dauerte bis zur ersten Vesperpause. Das mir angebotene Bier um neun Uhr morgens verschmähte ich dankend. Die Frage, wo das Klohäuschen sei, beantwortete mir der Nazi, indem er es eine Stunde lang okkupierte. Ich tat, was alle taten, und pinkelte an den Fuß des großen Krans inmitten des unübersichtlichen Gewirrs aus Baumaterial-Stapeln, Sand- und Kieshaufen.

Dann begann mein Einsatz! Mit einem Hammer musste ich die beim Beton-Wandguss in fast allen Innenräumen stehen gebliebenen Grate wegschlagen. Diese äußerst raue, an die Frühzeit des griechisch-römischen Bergbaus erinnernde Arbeit dauerte den Rest der Woche und ließ mein Äußeres immer mehr dem wilden, tierhaften Typus meiner Kollegen gleichen. Bald schon wankte ich standesgemäß durch Dreck und Wasserpfützen, nahm sogar ab und an ein morgendliches Bier mit Behagen in mich auf und konnte, auf diese Weise paralysiert, sogar Blondis Hasstiraden auf seine ausländischen Kollegen mit einem Achselzucken wegstecken. Dass ihm die Ausländer die Arbeit wegnahmen, konnte übrigens gut sein, da ich ihn nie einen Finger habe krumm machen sehen.

In Woche zwei wurde ich unseligerweise auf eine andere Baustelle abkommandiert, wo ich mit einem Hauptschüler, der illegal während der Schulzeit auf dem Bau „jobbte“, ein mittelalterliches Fachwerkhaus entkernen beziehungsweise mit einem Riesenhammer alles kurz und klein schlagen sollte. Doch wollte es mir partout nicht gefallen, in einer braunen Staubwolke zu stehen, die ein offenkundig gehirnamputierter Halbstarker vor mir produzierte, indem er serienweise Zwischenwände zum Einsturz brachte. Auf meinen vehementen Protest hin wurde ich auf die erste Baustelle zurückversetzt, da durfte ich in Ruhe den gelben Altbauschleim aus meiner Luftröhre heraushusten.

Mangels weiterer innerbaulicher Verwendungszwecke kam der Michelin-Mann schließlich auf die glorreiche Idee, mich den fußballfeldgroßen Dreckhaufen von Baustelle „sauber machen“ zu lassen, was jedoch eine neue „Mission impossible“ für mich wurde, weil ich, um erfolgreich zu sein, mit einem großen Bagger alles dem Erdboden hätte gleichmachen müssen. So erging schließlich der letzte, endgültige Durchhaltebefehl des sehr auf branchenunübliche Sauberkeit bedachten Poliers an mich: „Na, dann kehr halt die Kreuzung!“

Bis zum Ende meines Arbeitseinsatzes verbrachte ich meine Zeit damit, dreckverteilenden Lkw und Betonmischern auszuweichen und mich auf der Straße an einem speisverkrusteten Besenstiel festzuhalten. Niemals wieder habe ich so eingehend mitteleuropäische Ampelanlagen bei ihrer rastlosen Tätigkeit beobachten können. All dies ist längst Geschichte, aber die Sicherheitsschuhe von damals hängen als stete Mahnung an einem Nagel über meinem Schreibtisch. Immer wenn mich der trübe Gedanke beschleicht, dass alles sinnlos ist im Leben, denke ich mit grausiger Freude an die Tage auf dem Bau zurück.

TOM WOLF