Kakophoner Chorgesang bis zum Crescendo

Ein abstandswahrender Dreipunkteschuss in letzter Minute schockt Leverkusen beim 2:2 in Mönchengladbach

MÖNCHENGLADBACH taz ■ Zu den tragenden Säulen der Fußballwelt gehört es, dass ein einziger Moment so ziemlich alles über den Haufen werfen kann: Stimmungen, Analysen, Gerechtigkeitsempfinden, Hochrechnungen, Planspiele und eine Banalität wie Tabellenstand sowieso. Ein plötzliches Tor in letzter Minute ist dafür das beste Beispiel.

Morten Skoubos 2:2 kurz vor dem Abpfiff rettete den Borussen aus Mönchengladbach die Distanz zu den Abstiegsplätzen und schockte die überraschend stark auftrumpfenden Bayer-Mannen schwer. Leverkusen war „eine richtig gute Mannschaft“ und das „spieltechnisch bessere Team gewesen“, konnte Gladbachs Trainer Ewald Lienen nachher mühelos zugeben. Tatsächlich: Bayer hatte leidenschaftlich gekämpft, dazu frisch und frech einige beste Chancen herausgekontert. Mit einem Sieg durch Berbatows 2:1 kurz nach der Pause wären beide Teams punktgleich gewesen. Man hätte von Leverkusens beeindruckender Wiederauferstehung berichtet. Vom ersten Schritt zur späten Rettung. Und von einer dürftigen Darbietung der Borussen. Die klitschnassen Massen hätten ausdauernd gepfiffen. So jubelten sie sich ausgelassen den Regen von der Seele.

War das Remis noch ein Punktgewinn für Bayer? Oder ein doppelter Punktverlust? Die Stimmen wuchsen schnell zu einem vielstimmigen Chor. Angreifer Oliver Neuville, der wie in Bayers früherem Dasein über den Platz gewieselt war, gab den traurigen Tenor: „Ein Punkt ist zu wenig.“ Nein, man sei „kein Stückchen weitergekommen“, rechnete Carsten Ramelow. Thomas Hörster, der Dirigent auf der Trainerbank, verblüffte: „Wir haben die drei Punkte auf Mönchengladbach gehalten. Das war unser Ziel.“ Danach gab er ein optimistisches Solo: „Wir haben alles gezeigt. Darauf können wir aufbauen.“ Manager Reiner Calmund schnaufte sich zur Analyse „kein Punktgewinn“, aber er wolle auch „nit hadern“. Und rechnete vor: Drei Siege aus den vier Restspielen brauche man doch nur, das sei „keine Utopie“.

Sportdirektor Jürgen Kohler machte seinem Image gemäß in guter Laune und die Kakophonie komplett: Doch, das 2:2 sei sehr wohl „ein Punktgewinn“. Reicht das zur Rettung? Kohlers „Ja!“ kam spontan und laut. Als Zugabe lieferte er ein Crescendo: „In der Tabelle kommt noch jemand runter, der noch gar nicht daran glaubt.“ Was bei vier Spieltagen arithmetisch so wahrscheinlich ist wie eine späte Karriere von Pavarotti als Sopranistin.

Frage also an den Fachmann: Wolfgang Holzhäuser, Finanzvorstand der Leverkusener Fußball GmbH, muss sich doch mit Zahlen am besten auskennen. Also, Punktgewinn oder Punktverlust? „Beides stimmt“, sagt er mit Bestimmtheit und setzte so noch einen Obertongesang drauf. „Vorher eindeutig ja, Punktgewinn. Jetzt … na ja: eher nein.“

Deutlich wurde, dass Gladbach wenig Potenzial hat, den Gegner auszuspielen, wohl aber die Fähigkeit, gegnerische Fehler besonders rigoros auszunutzen. Erst die Einwechslung aller verfügbaren Mittelstürmer brachte die sehr zufällige Halbwende. Lienen: „Es geht bis zum letzten Spieltag.“ Scorer Skoubo, 22, im Vorjahr noch dänischer Torschützenkönig, sagte nach seinem ersten Ligator, er habe weiter „ein bisschen Angst vor dem Abstieg“. Ewald Lienen lobte den ungelenk wirkenden Riesen besonders, weil er nicht gerade der Publikumsliebling ist: „Morten läuft etwas komisch, aber er ist schneller als er aussieht. Und vor dem Tor ist er ganz cool.“ Was er bei seinem Dreipunkteheber nachhaltig belegte.

Reiner Calmund hatte gefallen, dass „der Abstiegskampf in den Köpfen der Spieler heute angekommen ist“. Ein ungewöhnlich kurzer Existenzkampf: Die Leverkusener könnten die große Bühne verlassen, bevor sie gemerkt haben, dass sie darauf standen. In der Musik ist das so, als würde sich ein Chor erst zur Zugabe einsingen. Aber, wer weiß, manchmal kommen in der Wohlklangwelt die besten Darbietungen ja auch zum Schluss. Von der Götterdämmerung zu „Freude, schöner Götterfunken“ ist es kaum mehr als eine große Punkte-Terz. BERND MÜLLENDER