Ein Präsidentenwort fürs rot-grüne Stammbuch

Johannes Rau bewertet einen EU-Beitritt der Türkei skeptischer als der Kanzler – und spricht damit vielen Sozialdemokraten aus dem Herzen

BERLIN taz ■ Es war klar, dass der Union das Stirnrunzeln des sozialdemokratischen Bundespräsidenten gefallen würde. Die aktuelle Diskussion um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei sei verfrüht, hatte Johannes Rau unmittelbar vor der Reise des Bundeskanzlers nach Ankara gesagt und vieldeutig hinzugefügt, er sei in dieser Frage schon „immer skeptischer als andere“ gewesen. Zur Begründung hatte Rau ausgerechnet in einem Interview mit der ostdeutschen Massenillustrierten Super Illu angeführt, dass die Türkei erst in die EU aufgenommen werden könne, wenn Religions- und Pressefreiheit oder die Ächtung der Folter nicht nur durch Parlamentsbeschlüsse garantiert seien, sondern auch im praktischen Leben umgesetzt würden. Peter Hintze, der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kommentierte den Beitrag des Bundespräsidenten gestern dann auch genüsslich mit den Worten, Rau habe „zum Ende seiner Amtszeit der rot-grünen Regierung deutliche Worte ins Stammbuch geschrieben“.

Die Bundesregierung dürfte weder über den Inhalt noch den Zeitpunkt des Rau-Interviews begeistert sein. Doch weder ziemt es sich, den „eigenen“ Bundespräsidenten offen zu kritisieren, noch waren Raus Worte so konkret, dass man sie als offenen Affront gegen den Kanzler und seinen Außenminister zurückweisen könnte – aber mit „andere“ hatte der skeptische Bundespräsident natürlich Gerhard Schröder und Joschka Fischer gemeint. Also versuchte der Regierungssprecher am Montag so zu tun, als seien Raus und Schröders Positionen völlig „deckungsgleich“. Der Bundespräsident habe völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass der Reformprozess in der Türkei mit Leben erfüllt werden müsse, sagte Schröders Sprecher und fügte hinzu, die Aufregung über Rau sei nur „ein Sturm im Wasserglas“.

Hinter diesem demonstrativen Schulterschluss mit Rau steckt schon wieder ein Kalkül des sozialdemokratischen Kanzlers. Schröder weiß nämlich nur zu gut, dass der rot-grüne Integrationskurs gegenüber der Türkei bei Teilen der SPD-Mitglieder, aber auch der SPD-Anhänger nicht auf große Gegenliebe stößt. Martin Schulz, der SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, nennt die Türkeifrage ein „sperriges Thema“, das nicht für den offensiven Wahlkampf, sondern allenfalls zum „Erklären“ geeignet sei. Wie Schulz sind auch andere SPD-Europaabgeordnete in diesem Punkt längst nicht so forsch wie ihr Kanzler – sie weisen lieber darauf hin, dass der EU-Beitritt der Türkei keine Selbstverständlichkeit sei und das Land noch einige Anstrengungen auf dem Weg nach Europa unternehmen müsse. In diesem Teil der SPD-Anhängerschaft kann ein bedenkenträgerischer Bundespräsident wohl mit Sympathie rechnen.

Zwischen den Türkei-Optimisten und Türkei-Skeptikern in der SPD gibt es keine abgestimmte Strategie, aber es läuft auf ein Spiel mit verteilten Rollen hinaus. Schröder setzt ganz unverhohlen darauf, mit seiner türkeifreundlichen Haltung die vielen türkischstämmigen Wähler in Deutschland für die SPD zu begeistern. Deswegen hat er persönlich dafür gesorgt, dass der deutsch-türkische Vorzeigeunternehmer Vural Öger („Öger Tours“) auf den aussichtsreichen Platz 10 der Europawahl-Liste der SPD gesetzt worden ist. Schröder weiß schon, warum. Öger lernt schnell: „Die Union“, sagte er pünktlich zum Kanzler-Besuch in Ankara, „kann sich bei den Deutsch-Türken keine Hoffnungen mehr machen.“ JENS KÖNIG