„Doppelstandard“

Joseph Cirincione, Rüstungskontrollexperte der Carnegie-Stiftung, über Entwaffnungskriege und Kettenreaktionen

taz: Herr Cirincione, der Irakkrieg wurde von der Bush-Administration vor allem damit begründet, die Verbreitung von ABC-Waffen verhindern zu wollen. Werden wir weitere solche Entwaffnungskriege sehen?

Joseph Cirincione: Die Theorie ist, dass jetzt, wo die USA ihre Entschlossenheit zum militärischen Eingreifen demonstriert haben, andere Staaten einknicken und insbesondere vor eigenen Atomwaffenprogrammen zurückschrecken werden. Ich fürchte allerdings, dass das genaue Gegenteil eintreten wird. In den kommenden Jahren könnten bestimmte Länder eine größere Bereitschaft zeigen, mit den USA zu reden. Gleichzeitig jedoch könnten sie ihre Anstrengungen beschleunigen, Atomwaffen zu erwerben.

Was kritisieren Sie an dieser US-Politik?

Das Problem ist, dass die US-Regierung sich auf zwei oder drei Fälle konzentriert hat – Irak, Iran, Nordkorea –, aber die Proliferationsrisiken anderer Staaten praktisch irgnoriert, insbesondere Indiens, Pakistans und Israels. Dieser Doppelstandard wird schwierig durchzuhalten sein. Zudem hat Washington die Rolle der Atomwaffen in der US-Strategie weiter oben angesiedelt und die Entwicklungen neuer Typen gestartet, die bei Interventionen benutzt werden sollen. All das schwächt die internationale Nonproliferationsnorm und ermuntert andere Staaten, an ihren nuklearen Optionen festzuhalten.

Wird es Ihrer Einschätzung nach künftig mehr oder weniger Atomwaffenbesitzer geben?

Die nächsten zwei Jahre werden entscheidend sein. Wie gehen wir mit den Schlüsselproblemen um: mit Nordkorea und Iran, aber auch mit Indien, Pakistan und Israel? Das wird darüber entscheiden, ob das Risiko der Proliferation weiterhin zurückgeht, wie es in den letzten 15 Jahren der Fall war, oder ob wir die zweite große Proliferationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg sehen – mit weiteren Staaten, die sich die Waffen beschaffen – und damit den Kollaps des Nonproliferationsregimes.

Das mag Rüstungskontrollexperten aufregen. Aber sind die damit verbundenen Gefahren tatsächlich so groß?

Wenn wir es nicht schaffen, das Problem Nordkorea, das sich Atomwaffen beschafft, zu lösen, könnte Südkorea ebenfalls denken, es habe keine Alternative, als sein Atomwaffenprogramm wieder aufzunehmen, das es in den Siebzigerjahren abgebrochen hat. Japan könnte auch seine nuklearen Optionen überdenken. Japan ist in der Lage, Atomwaffen innerhalb von zwei Monaten zu entwickeln, wenn es dies politisch will. Diese nukleare Kettenreaktion in Asien würde den globalen Kollaps des Nonproliferationsregimes bedeuten. Sehr viel mehr Länder könnten dann über Atomwaffen nachdenken.

Mit welchen Konsequenzen?

Es geht letztendlich nicht um Dritte-Welt-Staaten, es geht um große industrialisierte Staaten. Die entscheiden, ob und wann sie ihr eigenes Arsenal brauchen. Leute vergessen, dass genau dies die Sorge in den Sechzigerjahren war. Diese Sorge führte zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Es war die Sorge, Länder wie Deutschland, Italien, Schweden, die Schweiz und Australien könnten sich Atomwaffen beschaffen.

Ist das nicht eine zu düstere Prognose?

Das wäre das Alptraum-Szenario. Es kann in beide Richtungen losgehen. Die Bush-Regierung ist der Auffassung, dass ihre Politik, mit Gewalt gegen Proliferation vorzugehen, Erfolg haben wird. Ich sehe diese Politik nicht als eine dauerhafte Alternative zu internationalen Nonproliferationsverträgen. Meiner Ansicht nach ist dies ein sehr gefährliche Politik, die mehr Probleme schaffen als lösen wird.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ