Kein Kumpel


Scholz hat nicht das Kaliber eines Franz Müntefering, der sich schon mal ein Machtwort leisten konnte

von HEIKE HAARHOFF

Zumindest mit irgendeiner Reaktion hat sie beim Wiedersehen mit Olaf Scholz in Hamburg gerechnet. Nicht unbedingt mit einer überschwänglichen Umarmung, davor konnte man bei ihm immer sicher sein, egal, wie nah man sich ihm innerhalb der Partei fühlte. Aber ein ehrlich gemeintes „Wie geht's“ am Rand des Stadtteilgesprächs vielleicht, zu dem er kürzlich in seinem Wahlkreis Altona eingeladen hat. Wo sich doch zu ihm herumgesprochen haben dürfte, dass sie, die langjährige Genossin, ihren Job verloren hat und jetzt von Sozialhilfe leben muss.

Ein Lied könnte sie ihm davon singen, wie eine sich fühlt, die über 50 ist und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt kennt. Und der trotzdem vorgegaukelt wird, das alles sei nur vorübergehend. Nein, nicht ihren Namen schreiben. Es ist so schon entwürdigend, was demnächst Standard für viele Arbeitslose in Deutschland werden soll. Standard nach dem Willen von Olaf Scholz! Dem SPD-Generalsekretär. Verbündete sind sie mal gewesen. Da stritten sie für Spielplätze oder Traufhöhen von Neubauten, er als Kreisvorsitzender der SPD in Altona, sie als Parteimitglied. Und jetzt nimmt er keine Notiz von ihr?

Sicher, Olaf Scholz hat Bilderbuchparteikarriere gemacht in den letzten Jahren. Und dieser Tage, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hat er bannig viel Schiet um die Ohren, wie man in Hamburg sagen würde: Genossen, die gegen die geplanten Sozialreformen Sturm laufen, Spekulationen um seinen Rücktritt aus den eigenen Reihen, Vorwürfe, er sei mehr Pressesprecher des Kanzlers denn Sekretär der Partei, einen Sonderparteitag gegen seinen Willen.

Er sieht blasser aus als gewöhnlich, egal ob mit Maske im Fernsehen oder ungeschminkt live, und das, obwohl seine Frau ihn neuerdings zum Joggen anspornt. Sein Zwinkern über die kleinen Missgeschicke des Lebens, dieses verschmitzt-spitzbübische Grinsen, bei dem die Augen ganz klein werden und das zu Olaf Scholz gehört wie zu Theo Waigel die Brauen, ist seltener geworden. Er sagt: „Es sind so doofe Mackersprüche, zu sagen, es mache einem nichts aus.“ Aber das erklärt nur zum Teil das Maß an Beachtung, das viele an ihm vermissen.

Olaf Scholz, 44 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Er gilt weder als oberflächlich noch als hochmütig gegenüber intellektuell oder professionell Unterlegenen. Weggefährten, die einen weniger kometenhaften Aufstieg vollzogen haben als er, kennt er noch nach Jahren mit Namen. Es ist nur so: Scholz ist nie ein Kumpel gewesen, an dessen Schulter man sich in schlechten Zeit anlehnen durfte, auch nicht für die eigenen Leute.

„Er ist kein Möge-Politiker“, sagt ein Parlamentarier aus Hamburg, der nicht im Verdacht steht, den Generalsekretär demontieren zu wollen. „Ihm fehlen zu oft die kleinen entscheidenden Gesten.“

Die kleinen entscheidenden Gesten. Wenn andere Sozis in Hamburg nachts saufen gingen, um in Geselligkeit über Posten und Positionen zu schnacken, nutzte der Theoretiker Scholz die Zeit, an seinem Schreibtisch parteipolitischen Konzepten Hand und Fuß zu geben, oder zog schon mal anderswo die Strippen. Die rot-grüne Landeskoalition kam 1997 so zustande, der glücklose Innensenator Wrocklage wurde 2001 so von der eigenen Partei abserviert und durch Scholz persönlich ersetzt, die SPD-Fraktionsspitze nach der verlorenen Landtagswahl im selben Jahr mit Genossen seines Vertrauens neu besetzt. Am Ende war Scholz mit seinen kompromisslosen Entscheidungen oft erfolgreich. Gelernt, die Herzen anderer für eine Sache zu gewinnen, hat er dadurch nicht unbedingt. „Ich bin kein Sozialarbeiter“, hat er sich auf einer Veranstaltung 1996 mal empört. Das war halb lustig und halb ernst gemeint. Warum sich um Sympathien bemühen, wenn doch die Inhalte stimmen?

Olaf Scholz unterwegs im Auto. Er pendelt viel zwischen Berlin und Hamburg, wo er Landeschef und Bundestagsabgeordneter ist. Auf der Rückbank quellen Faxe, manchmal klingeln Autotelefon und Handy gleichzeitig, oft kann er das Gähnen kaum unterdrücken, zwischen zwei Telefonaten verliert er den Gesprächsfaden. Er kann einem Leid tun. Er sagt: „Am liebsten würde ich alle Termine bis Montag absagen.“ Er könnte die Zeit sinnvoller nutzen, bis der Bundesvorstand heute den Beschluss zur „unumstößlichen Notwendigkeit der Reformen“ fassen, sprich: die umstrittene Agenda 2010 zur Vertrauensfrage über die Regierung erheben will.

Längst hätte er sich der Redaktion des neuen Grundsatzprogramms widmen wollen, das bis zum Herbst fertig sein soll. Die Wirtschafts- und Sozialkompetenz müsse die SPD in Deutschland erobern, sagt er, daran werde sie bei den nächsten Wahlen gemessen, dem gilt sein Interesse, darin sieht er auch seine Rolle als Generalsekretär. So viele konzeptionelle Denker hat die Partei nicht. Aber jetzt halten ein paar Loser, von denen die meisten, anders als er, überhaupt nur dank Liste in den Bundestag gekommen sind, ihn mit einem Mitgliederbegehren auf, stören seine Arbeit mit einer unnötigen Monatsdebatte. Er sagt das wirklich so, Loser und Monatsdebatte.

Dabei interessiert er sich durchaus für Nachforschungen über die Befindlichkeiten an der Basis. 1998, als er in den Bundestag kam, versprach er seinen Wählern, sie nicht zu vergessen. Er hielt Wort. Oft zweimal im Monat kommt er zu Stadtteilgesprächen; seine Einladungen plakatiert er stets, als wäre schon wieder Wahlkampf. „Man kann mich mit verbundenen Augen eine halbe Stunde unter die Leute setzen, und ich sage, ob ich in Blankenese bin oder Lurup.“ Jede Wette.

An diesem Aprilabend ist er in Rissen, einem der Hamburger Elbvororte, in denen eher drei als zwei Autos vor den Garagen parken. Aber Besorgnis und Unbehagen über gekürztes Arbeitslosengeld und gelockerten Kündigungsschutz haben ihren Weg auch hierher gefunden. „Ich will Ihnen gern antworten.“ Kunstpause. Olaf Scholz: ruhige Stimme, ernster Blick. Er wirkt wie ausgewechselt. Sagt, dass er die Sorgen vor Arbeitslosigkeit und Krankheit versteht. Erzählt, dass er, der den Spanier Felipe González und dessen „charismatische Reformpolitik“ als seine Vorbilder betrachtet, einst Sozialdemokrat wurde, „weil ich eine gerechtere Welt wollte und will“. Eine Welt, in der der Sozialstaat nicht mehr für alles aufkommen könne, aber in der Verlass sein müsse auf ihn. Eine Welt, in der man Kindern nicht an den Zähnen ansehen dürfe, ob ihre Eltern arm oder reich seien. Weswegen die Zahnbehandlung Sache der Kassen bleibe. Eine Welt, in der verletzte Menschen behandelt werden müssten, unabhängig von der Ursache ihrer Verletzung. Weswegen die Unfallversicherung eine gesetzliche bleibe. Eine Welt, in der niemand Angst haben müsse, krank zu werden, denn das Krankengeld werde nicht abgeschafft, sondern bloß ausgelagert, also nicht mehr paritätisch finanziert. Paritätisch. Er dehnt das Wort, als sei es ein Begriff aus der Steinzeit. Nicht modern also. Und am Ende klatschen sie alle brav. Klatschen in Hamburg-Rissen, klatschen bei der SPD-Unterbezirkskonferenz in Aschaffenburg, klatschen bei der Landesbezirkstagung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten im Ostseebad Damp: Er hat nichts beschönigt, aber sie haben das Gefühl, dass er Wort halten wird. Das ist schon was.

Olaf Scholz weiß, dass kleinere Zirkel, in denen Zweiergespräche möglich sind, seine Stärke sind. Dieser Ehrgeiz bestimmt auch seinen Anspruch an sich als Generalsekretär: „Irgendwann werde ich überall gewesen sein.“ Wenn auch nicht, um den „lieben Freundinnen und Freunden“ Zugeständnisse zu machen. Sondern um mitzuteilen, was richtig ist, was falsch. „Wir halten an der Agenda 2010 fest, weil wir von ihrer Notwendigkeit überzeugt sind.“ Punkt. Als seien die SPDler, die da aufmucken, die Opposition. So gibt er sich auf Pressekonferenzen, im Fernsehen, in großer Runde. So als wäre er mit dem, was er zuvor im kleinen Kreis von sich preisgegeben hat, zu weit gegangen. Und verkennt, dass er eben nicht das Kaliber seines Vorgängers Müntefering hat, der sich schon mal ein Machtwort leisten konnte, wissend, dass die mächtigen Nordrhein-Westfalen hinter ihm standen und er ohnehin so etwas wie der heimliche Parteivorsitzende war.

Regelmäßig kommt er zu Stadtteilgesprächen. Seine Einladungen plakatiert er, als wäre wieder Wahlkampf

„Olafs Selbstsicherheit, die einzig richtige Weltsicht zu haben, seine kaderorientierte Denkweise“, so schmollt ein Altonaer Kreisdelegierter, „das kriegen jetzt auch mal andere zu spüren.“ Solange Scholz sich nur in Hamburg behaupten musste, gelang ihm das über Fleiß und Kompetenz, scharfe Analyse und Taktik, einen ausgeprägten Machtinstinkt und Mentoren: politischer Nachwuchs seines Alters ist rar. Zudem funktionierte die SPD an der Elbe nach vier Jahrzehnten ungebrochener Herrschaft zuletzt ohnehin eher wie die CSU in Bayern. Wer in der Partei war, der wurde versorgt, und wer der Partei widersprach, nun ja, aus dem wurde nichts.

Da konnte Scholz auch schon mal für die sozialdemokratische Seele schwer erträgliche Maßnahmen durchsetzen, Brechmittel für Junkies etwa, Rasterfahndung nach dem 11. September 2001, geschlossene Heime für jugendliche Serienstraftäter. Nie wollte er, der als renommierter Arbeitsrechtler gilt und manchen Betrieb vor Kündigungen schützte, sich in Kategorien wie „links“ oder „rechts“ einordnen lassen. Nur: Gewisse soziale Wirklichkeiten erforderten gewisse pragmatische Lösungen.

Geputscht hat bislang niemand gegen ihn. Und so wird es bleiben, ist Scholz überzeugt. Da kann einer wie Hamburgs Exbürgermeister Runde, der selbst nicht zuletzt an seiner Beratungsresistenz scheiterte, noch so sanft mahnen: „Menschen kann man nur etwas zumuten, wenn man ihnen eine Perspektive bietet.“

Perspektiven bieten. Natürlich, sagt Scholz, habe er in Altona seine Mitstreiterin bemerkt, die momentan von Sozialhilfe lebt. Momentan, betont er. Denn bald werde sie zusätzliche Vergünstigungen und ein Recht auf Beratung haben, möglicherweise sogar wieder eine richtige Arbeit, wenn die Rechnung der SPD aufgeht.

Er sagt: „Sie wird die Gewinnerin unserer Reformen sein.“ Er sieht einem dabei direkt in die Augen. Er glaubt das wirklich.