„Kein EU-Staat wird ausgegrenzt“

Angelika Beer, Vorsitzende der Grünen, lehnt ein Kerneuropa in der Verteidigungspolitik ab. Beim Gipfel in Brüssel gehe es eher um Brainstorming

Der Aufbau einer Verteidigungsunion bedeutet die Abgabe staatlicher Souveränität

Interview SABINE HERRE

taz: Frau Beer, an dem Verteidigungsgipfel, der morgen in Brüssel stattfindet, nehmen nur vier von künftig 25 EU-Staaten teil. London und Madrid, aber auch die deutsche Opposition und selbst Abgeordnete der SPD kritisieren das Treffen scharf. Sollte der Gipfel dennoch stattfinden?

Angelika Beer: Natürlich, daran kann auch durch die Kritik der Opposition kein Zweifel aufkommen. Grundregel in der EU ist, dass Partner auch im kleinen Kreis zusammenkommen können. Bei dem morgigen Treffen werden keine Vorentscheidungen für die künftige Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union getroffen. Das Ziel ist vielmehr die Entwicklung produktiver Ideen. Man hätte schon viel früher beginnen sollen über mehr Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik nachzudenken. Es ist positiv, dass Belgien als EU-Staat und Nato-Mitglied jetzt die Initiative ergriffen hat. Die politischen Differenzen in der EU im Irakkonflikt haben den dringenden Handlungsbedarf zur Entwicklung einer gemeinsamen Europäischen Außen- und Verteidigungspolitik deutlich erkennen lassen.

Aber auffällig ist doch, dass sich in Brüssel allein die Gegner des Irakkrieges treffen. Vertieft das nicht die Spaltung in der EU?

Nein, mit Sicherheit nicht. Belgien als Initiator bestimmt, wer eingeladen wird. Es gab im Vorfeld eine enge Abstimmung zwischen dem Bundeskanzler und anderen EU-Regierungschefs, besonders mit Tony Blair. Ferner wurde vereinbart, dass über die Diskussionen auf dem Vierergipfel beim Treffen der EU-Außenminister am Wochenende informiert und debattiert wird. Also: In Brüssel findet morgen keine geschlossene oder gar geheime Veranstaltung statt, es gibt keine Ausgrenzung, und es wird auch keine institutionalisierte Vierergruppe geben.

Welche konkreten Ergebnisse erwarten Sie denn von dem Gipfel?

Es gab weit reichende Vorschläge des belgischen Premierministers, die bereits konkrete Strukturen betreffen. So zum Beispiel die Schaffung eines eigenen EU-Generalstabs, unabhängig von der Nato. Eine Festlegung darauf wird es morgen nicht geben können, weil dies von anderen EU-Mitgliedern als Affront verstanden werden müsste. Zweitens wollte Belgien einen Beschluss über die Anhebung der nationalen Verteidigungsausgaben. Der Bundeskanzler hat jedoch bereits in seiner außenpolitischen Regierungserklärung Anfang April betont, dass es darum nicht gehen kann. Europa braucht eine umfassende Sicherheitspolitik. Und da geht es um mehr als das Militärische: Es geht um politische, wirtschaftliche, soziale, aber auch kulturelle und ökologische Fragen oder um Fragen der Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Sicherheit – also um die Integration aller Aspekte einer Außen- und Sicherheitspolitik. Mit anderen Worten: Ich erwarte keine fixen Beschlüsse, mit denen andere EU-Mitglieder vor den Kopf gestoßen werden, sondern für den Teilbereich der „militärischen Sicherheitspolitik“ sinnvolle Anstöße zum gemeinsamen Nachdenken aller in der EU.

Was kann das Ziel einer Europäischen Verteidigungsunion sein?

Erstens muss definiert werden, was Sicherheit in und für Europa bedeutet. Dafür ist eine gemeinsame Risikoeinschätzung nötig. Diese wird die verschiedenen Konfliktformen und alle Bedrohungen berücksichtigen müssen, mit denen wir konfrontiert sind. Also von ethnischen Auseinandersetzungen und asymmetrischer Kriegsführung bis hin zum internationalen Terrorismus. Zweitens müssen die EU-Staaten gemeinsam entscheiden, über welche nichtmilitärischen Instrumente und welche militärischen Fähigkeiten sie verfügen wollen. Wo und aus welchen Gründen wollen wir als letztes Mittel militärisch intervenieren können? Drittens sollte die Union nicht der Versuchung unterliegen, militärisch zu den USA aufzuschließen oder amerikanische Strategien wie die militärische Prävention übernehmen zu wollen.

Die EU soll also keine Gegenmacht zu den USA werden?

Die EU ist keine militärische Supermacht und sollte auch keine werden. Vielmehr sollte sie deutlich machen, dass ihr vorrangiges Ziel die Krisen- und Konfliktprävention ist. Aus meiner Sicht heißt das: Es geht beim Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion nicht um eine Konkurrenz zur Nato, sondern um ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Autonomie. Militärische Kooperation mit den USA wird immer wieder notwendig sein. Aber die EU muss sowohl Nein sagen können, wenn völkerrechtliche Grundlagen fehlen, oder auch mal Ja, wenn Washington an einer von der UNO gebilligten Friedensmission nicht beteiligt sein will.

Aber für den Aufbau dieser Verteidigungsunion ist doch eine Aufstockung des Verteidigungshaushalts unumgänglich.

Es geht nicht um mehr Geld, sondern um mehr Reform. Ziel ist die Modernisierung unserer Armee. Sie muss „europakompatibel“ werden. Das wird einer bestimmten Klientel weh tun, denn die Bundeswehr muss sich von ihrem Strukturkonservatismus verabschieden.

Und was heißt das konkret?

Notwendig bleibt vor allem eine weitere Reduzierung der Personalstärke. Allein in Deutschland geben wir 56 Prozent des Verteidigungshaushalts für Personal aus und dadurch ist der investive Anteil viel zu gering. Der Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und die damit verbundenen Synergieeffekte müssen zu deutlichen Reduzierungen in nationalen Führungsstrukturen führen. Die heutige EU hat 2,3 Millionen Soldaten und Soldatinnen, die USA dagegen 1,3 Millionen. Die USA sind eine Weltmacht, die Europäer sind seit kurzem erstmals in der Lage, einen Einsatz wie den in Mazedonien mit maximal 400 Soldaten zu führen. Durch die Kooperation werden sich Einsparmöglichkeiten ergeben. Dort wo dupliziert wurde, kann deutlich reduziert werden. Dabei werden die Politiker wohl feststellen, dass zum Beispiel zu viele A 400 M-Lufttransporter bestellt wurden. Dieser ganze Prozess der integrierenden Kooperation der europäischen Armeen wird sicherlich zehn Jahre in Anspruch nehmen. Aber wir müssen endlich damit anfangen. Unabhängig davon bleibt unser Ziel, dass mehr Mittel in die Konflikt- und Krisenprävention investiert werden. Kriegsvermeidung ist weit aus billiger als die militärische Intervention und der nachfolgende Aufbau.

Sind Sie für ein Kerneuropa in der Verteidigungspolitik?

Nein. Aber ich gehe davon aus, dass nicht immer alle 25 EU-Staaten zusammen an einem militärischen Einsatz teilnehmen werden. Das halte ich auch nicht für notwendig. Notwendig ist jedoch, dass es den gemeinsamen politischen Willen zu dieser Aktion gibt, dass Europa hier militärisch und politisch mit einer Stimme spricht.

Wenn im nächsten Jahrzehnt die Armeen der EU-Staaten immer mehr miteinander verzahnt werden, wächst dadurch auch die gegenseitige Abhängigkeit. Was aber heißt das dann für die demokratische Kontrolle dieser EU-Armee. Kann der Bundestag zu einem Einsatz deutscher Soldaten zum Beispiel im Kongo überhaupt noch Nein sagen, ohne die Einsatzfähigkeit der EU-Truppe insgesamt zu gefährden?

Es gibt keine weder praktisch noch verfassungsrechtlich eine Alternative: Das Parlament hat auch weiterhin zu entscheiden, ob die Bundeswehr an einem Einsatz teilnimmt oder nicht. Zugleich gibt es aber keine Alternative zum Aufbau einer Verteidigungsunion. Die Herausbildung dieser Union erfordert sowohl eine Abgabe von Teilen nationalstaatlicher Souveränität als auch die Erarbeitung eines Modells demokratischer Kontrolle für den Einsatz europäischer Streitkräfte. Deutschland geht bestimmte Verpflichtungen ein und kann nicht mehr so einfach sagen: Nein, wir machen jetzt nicht mit. Hierin liegt sicher ein gewisses Risiko. Die Voraussetzung für das Funktionieren einer Verteidigungsunion ist daher das gegenseitige Vertrauen der EU-Staaten und vor allem der politischer Wille, ein gemeinsames sicherheitspolitisches Konzept zu entwickeln und umzusetzen.