türkei/eu
: Zu wenig Sinn für Mögliches

Das Erstaunlichste an der Debatte ist, dass sie erst jetzt ausbricht. Pünktlich zum Kanzlerbesuch in Ankara ließ der Bundespräsident jetzt wissen, dass er einen türkischen Beitritt zur Europäischen Union schon immer „skeptischer als andere“ beurteilt habe. Wohl wahr: Ungeteilte Zustimmung fand diese EU-Erweiterung in der SPD noch nie – schon gar nicht im sozialdemokratischen Traditionsmilieu, zu dem Johannes Rau gehört.

KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN

Allerdings haben die innerparteilichen Beitrittsgegner ihren Unmut bislang nicht so laut geäußert. Das beruhte schlichtweg auf der Fehleinschätzung, dass die Frage auf absehbare Zeit nicht aktuell werde. Die Traditionssozis vertrauten darauf, dass die Türkei die Bedingungen für einen Beitritt nie und nimmer erfüllen würde. Bestärkt wurden sie durch einen Kanzler, der für seine protürkische Position lange Zeit nur mit gebremster Begeisterung warb.

Jetzt werden die Skeptiker erneut zum Opfer eines Mangels an Möglichkeitssinn, der in der jüngeren Geschichte schon oft zu gravierenden Fehleinschätzungen führte. In den Siebzigerjahren hatten die Sozialdemokraten zwar noch gegen große Widerstände einen außenpolitischen Aufbruch gewagt. Doch in den Achtzigern waren die meisten davon überzeugt, dass man sich mit den Regimen im Osten bis in alle Ewigkeit abfinden müsse. Und im Vorfeld der Euro-Einführung konnte sich hierzulande kaum jemand vorstellen, dass Länder wie Italien oder Griechenland die Kriterien für die Gemeinschaftswährung jemals erfüllen könnten.

Als „sperrig“ bezeichnet manch ein SPD-Politiker mittlerweile das Türkeithema mit Blick auf den Wahlkampf. Aber auch die Union tut sich damit schwer. Mit dem Hamburger Bürgermeister Ole von Beust und dem Gelsenkirchener Stadtoberhaupt Oliver Wittke haben jetzt ausgerechnet zwei CDU-Politiker, die in ihren Wahlkämpfen auch um die zahlreichen türkischstämmige Stimmberechtigten werben, der beitrittskritischen Haltung ihrer eigenen Parteichefin widersprochen.

Mit ihrer Ankündigung, den Beitritt der Türkei zum Wahlkampfthema zu machen, tut sich Angela Merkel also schwerer als gedacht. Nicht nur, weil die Meinungsumfragen über alle Parteigrenzen hinweg breite Zustimmung zu einer mittel- bis langfristigen Beitrittsperspektive signalisieren. Sondern vor allem, weil sich Befürworter und Gegner fast gleichmäßig auf die beiden Volksparteien verteilen.