Hans Joachim Schädlich liest im Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Anders“
: Wandelbare Persönlichkeiten

„Ich weiß gar nicht, wer ich bin und wer ich war.“ Nur einmal wird dieser Satz des Nichtwissens in dem neuen Roman Anders von Hans Joachim Schädlich, aus dem er jetzt im Literaturhaus liest, ausgesprochen. In einem so hellsichtigen wie traurigen Moment entfährt er der an Alzheimer erkrankten Mutter einer der Hauptfiguren. Man meint aber, ihn als ein Raunen während der gesamten Lektüre zu vernehmen. Hinter diesem Satz wollten sich wohl viele derer verschanzen, die im Roman vorgeführt werden. Der Schrecken besteht dann darin, dass es angesichts dieser Worte kein Selbst-Erschrecken gibt. Sie sollen den Sprecher in Unschuld waschen, seine Verantwortlichkeit tilgen.

Jene, die vorgeben, so wenig zu wissen, sind Objekte der Recherchen des Ich-Erzählers und Awas, beide pensionierte Meteorologen. Sie spüren Menschen nach, deren Biographien sich durch extreme Wandlungen, eine „Begabung“ zur Täuschung auszeichnen. Akribisch haben sie etwa den Werdegang Hans Schneiders nachvollzogen, authentisch wie die anderen beschriebenen „Fälle“. Ehrgeizling, überzeugter Anhänger der NS-Ideologie und Mitglied der SS, machte er als Germanist Karriere – die er unter dem Namen Hans Schwerte nach 1945 fortsetzte. Zudem erwarb er sich einen Ruf als linker Liberaler, der auf Podien über die Verantwortung der Deutschen für Auschwitz diskutierte. Glaubte er sich als dem ganz Anderen? Hätte er den zitierten Satz gerne so abgewandelt, dass er die Vergangenheit vollkommen von der Gegenwart abtrennte: „Ich weiß, wer ich bin, aber ich weiß gar nicht, wer ich war.“

1995 verlor diese Formel ihre Kraft, niederländische Journalisten sagten, wer er war. Statt seines Gesichts verlor er die damit verwachsene Maske. In Gesprächen, die stilistisch an platonische Dialoge erinnern, berichten sich Awa und der Erzähler von weiteren solcher Maskeraden. Und von der Bereitschaft, diese für wahr zu nehmen; vom Verharmlosen und Drüberwegsehen – in beiden neu entstandenen deutschen Staaten. H. J. Schädlich variiert das Thema der formbaren Biographie.

Die Geschichte Jerzy Zweigs wirft andere Fragen auf als die der Nazikarrieristen. Warum stülpt einer die von anderen gestrickte Legende wider besseres Wissen dem eigenen Leben über? Zweig hat als kleiner Junge das KZ Buchenwald überlebt. Bruno Apitz hat diese Geschichte in seinem Roman Nackt unter Wölfen als Mythos vom kommunistischen Widerstand erzählt. Doch Zweig wurde von den kommunistischen Häftlingen nicht unter Einsatz ihres Lebens verstecktgehalten. Er war offiziell registrierter Häftling. Und statt seiner ging ein „Zigeunerjunge“ in das Gas von Auschwitz. Auch dieser „Tausch“ kommt bei Apitz nicht vor. Zweig war zu klein, um sich zu erinnern. Sein Vater hat die Ereignisse für ihn aufgeschrieben – der erwachsene Zweig wählte die Legende.

Natürlich geht es in Anders um eine gesellschaftlich-politische Dimension, aber H. J. Schädlich treibt das Motiv der wandelbaren Biographie auch in einem umfassenderen Sinne um. Die Selbstkontrolle gehe verloren, „Anderes bleibt und tritt nackt hervor; Eigenschaften, die nicht länger maskiert sind“, heißt es über die an Alzheimer leidende Mutter Awas. Eine alles auf den Kopf stellende Spiegelung: Die Merkmale dieser Wandlung sind in allem das genaue Gegenteil zu der eines Schneiders. Beunruhigend und beängstigend sind sie, auf je verschiedene Weise, beide. Carola Ebeling

Hans J. Schädlich: „Anders“. Rowohlt, Reinbek 2003, 220 S., 19,90 Euro Lesung: Do, 26.2., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38