Mit Glamour verziert

Larger than life: Fernando Meirelles nahm sich für „Ciudade de deus“ eine authentische Geschichte aus den Favelas Rio de Janeiros vor – und versah sie mit einer großen Portion ästhetischen Mehrwerts. Am Montag hat der Film im Abaton Premiere

Das Resultat könnte kaum weiter entfernt sein vom Realismus des Cinema Novo

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Es gibt einen Witz in São Paulo, Villem Flusser erzählte ihn mal in einem Interview: Stehen zwei Männer an einer großen Straße, der Verkehr braust unaufhörlich und undurchdringlich an ihnen vorbei. Nach einigen verzweifelten Versuchen, eine Verkehrspause zum Passieren zu erhaschen, brüllt der eine über die Straße hinweg zum anderen: „Wie bist du bloß da rübergekommen?“ Ruft der zurück: „Ich bin hier geboren.“ Besser lässt sich Segregation in Megacitys bis heute nicht auf den Punkt bringen. Nicht nur in Brasilien, auch in anderen Großstädten dieser Welt sind ganze Stadtviertel nicht einmal kartographiert. An ihrer Stelle befinden sich in offiziellen Stadtplänen bloß weiße Flecken, und nicht selten sind deren Bewohner – in Brasilien bis zu einem Drittel der Bevölkerung, fast ausschließlich Schwarze – von staatlicher Kontrolle, aber auch Zuwendung vollständig abgeschnitten.

Die Ciudade de deus in Rio de Janeiro, in der Fernando Meirelles gleichnamiger Film spielt, wurde in den 60ern von städtischer Hand als geometrische Reihung von Streichholzschachtel-Häusern errichtet. Inzwischen trauen sich auch dort Polizeibeamte nur hin, wenn sie an der informellen Ökonomie der dort Lebenden teilhaben. Ciudade de deus (City of God) ist nach dem halbdokumentarischen Feature Domesticas Meirelles zweiter abendfüllender Film. Als Vorlage diente ein autobiographischer Bericht von Paolo Lins, der in der Ciudade de deus aufwuchs und wie Buscapé, die Erzählerfigur des Films, einen legalen Weg aus der Favela hinaus fand.

Meirelles hat von Erdung des Films in einer Vorlage über die Wahl des Spielorts – eine „echte“ Favela – bis zur Besetzung – Kinder und Jugendliche aus der Ciudade de deus – alles getan, um das Erzählte gründlich in der Wirklichkeit zu verankern. Und doch könnte das Resultat kaum weiter entfernt sein vom Realismus des lateinamerikanischen Cinema Novo der 60er Jahre. Eine Marktszene mit Trommelschlag, einem dem Schlachterbeil entfliehenden und augenblicklich verfolgten Huhn, ebenso hektisch rennenden Jugendlichen, die sich nach und nach zu einer Gang formieren und die Waffen zücken: Nach dieser mit unsteter Handkamera aufgenommenen und furios schnell geschnittenen Eingangssequenz, führen sepia-farbene Rückblenden in die Kindheit der Favela und ihrer Hauptdarsteller in den 60er Jahren, der heutigen Pusher und Drogenbarone.

Was hier vor Augen geführt wird, eine zunehmende Verrohung und schließlich vollständige Gewalttätigkeit immer jüngerer Favela-Bewohner bis in die 80er Jahre hinein, ist in jeder Hinsicht larger than life. Scorseses Goodfellas wurde schon zum Vergleich herangezogen, manch einer fühlte sich an die stilisierten Gewaltdarstellungen in den Filmen Sam Peckinpahs erinnert. Die weißen Zuschauer in Rio de Janeiro waren betroffen und entsetzt, das Publikum in Cannes betroffen, entsetzt und begeistert. Die jugendlichen Bewohner der Favelas dagegen johlten bei den Vorführungen aus purer Begeisterung. Einen der Drogenbosse, deren Leben in den Film eingegangen ist, konnte die Polizei festnehmen, weil er seiner Freundin bei der Premiere mal zeigen wollte, was für einen tollen Hecht er im Film abgibt.

Wie William Golding, der in Herr der Fliegen eine Gruppe von Kindern auf einer Insel fernab der Zivilisation absetzte, hat Meirelles in dem unkartographierten Gebiet der Favelas eine anthropologische Versuchsanordnung angelegt. Erwachsene spielen in seinem Film ebenso keine Rolle wie die himmelschreiende Armut der Favela-Bewohner, der Mangel an existenzieller Grundversorgung oder an Zukunftsperspektiven. Seine Frage lautet einzig: Was passiert, wenn sich selbst überlassene Kinder Kokain in die Hand bekommen und Waffen: Welche menschlichen Grundeigenschaften werden sich dann wohl Bahn brechen.

Doch über diese abstrakte Frage hinaus hat Meirelles die stilisierten Versuchsanordnungen über Herrschaft und Loyalität, die ein Mafiafilm oder ein Peckinpah-Western in einigem Abstand zur empirischen Realität entwirft, zu gleichen Teilen mit Authentizität und mit einer großen Portion Glamour aufgeladen. Die angewendeten filmischen Mittel – Split Screen, Stopmotion, Zeitraffer und digitale Bearbeitung – sind allesamt dazu angetan, aus den Kindern und Jugendlichen Popstars zu machen. Gewaltverherrlichung lässt sich dem Film nicht vorwerfen, bei deren Darstellung wird einige Zurückhaltung an den Tag gelegt. Aber Meirelles versieht Verhältnisse mit einem ästhetischen Mehrwert, die er als realistische behauptet und eigentlich als unerträglich brandmarken wollte.

Premiere: Mo, 20 Uhr, Abaton; der Film startet am 8.5.