Aussage gegen Aussage

Am Sonntag werden die Oscars verliehen. Der nominierte Dokumentarfilm „Capturing the Friedmans“ hat im Vorfeld viel Kritik auf sich gezogen

Es kommt nicht oft vor, dass man einen Dokumentarfilm sieht und dabei meint, geradewegs in die Hölle zu schauen. „Capturing the Friedmans“ von Andrew Jarecki, für den Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert, ist so ein Film. Er beschäftigt sich mit einem Fall fortgesetzten und massiven sexuellen Missbrauchs, der sich in den Achtzigerjahren in einer wohlhabenden Gemeinde auf Long Island zutrug – wobei der Film nicht bis ins Letzte klären kann und will, ob sich dieser Missbrauch tatsächlich ereignet hat oder Produkt einer kollektiven Fantasie ist.

Der Lehrer Arnold Friedman soll in seinen Computerkursen Schüler missbraucht, sein damals noch nicht volljähriger Sohn Jesse soll ihm dabei assistiert haben. Ende der 80er-Jahre wurden beide schuldig gesprochen, nachdem sie gestanden hatten. Arnold Friedman starb im Gefängnis; sein Sohn wurde 2001 nach 13 Jahren Haft entlassen. Kürzlich hat er eine Eingabe vor dem Nassau County Court gemacht, damit das Urteil gegen ihn ausgesetzt wird. Das Geständnis, sagt Jesse Friedman im Film, habe er damals nur deshalb geleistet, weil er einen unfairen Prozess fürchtete. Er glaubte, besser dazustehen, wenn er auf schuldig plädierte.

Seit Friedmans Eingabe haben Opfer und deren Angehörige sich zu Wort gemeldet und den Film, der in den USA schon im Mai startete, heftig angegriffen. Zwei der Opfer haben einen offenen, wenn auch nicht namentlich unterzeichneten Brief an die Academy of Motion Picture Arts and Sciences geschickt. Jarecki, schreiben sie, habe ihre Aussagen so verzerrt wiedergegeben, dass ein falscher Eindruck entstehe. „Wir haben nicht gelogen“, heißt es dort, „wir haben nicht übertrieben. Wir sind niemals hypnotisiert worden, damit wir unsere Geschichten erzählen.“

Die Mutter eines der Opfer sagte gegenüber der New York Times, Jarecki habe in „Capturing the Friedmans“ Material unterdrückt, mit dem Jesse Friedmans Schuld bewiesen worden wäre. Außerdem habe der Filmemacher „den Kontakt zu den Opfern nicht gesucht; ich habe nie von ihm gehört“. Der Anwalt von vier weiteren Opfern, Salvatore Marinello, wirft dem Film vor, die Ermittlungen gegen Arnold und Jesse Friedman nicht wahrheitsgemäß wiederzugeben.

Zwar lässt der Film keinen Zweifel daran, dass Arnold Friedman pädophil war, doch zugleich versammelt er zahlreiche Aussagen, die den wiederholten Missbrauch von Schülern als monströses Gespinst darstellen. Jarecki zeichnet ein Klima von Hysterie und Hexenjagd nach, in dem Zweifel – ob von ermittelnden Polizisten, Journalisten oder Angehörigen der Justiz – nicht zur Kenntnis genommen wurden.

Die Academy hat auf die Kritik der Opfer bisher nicht reagiert. Andrew Jarecki seinerseits hat sich via E-Mail zu Wort gemeldet: „Anders als andere Dokumentarfilme, die sich einen Standpunkt zu Eigen machen, zeigt ‚Capturing the Friedmans‘ die gesamte Beweislage und erlaubt den Zuschauern dadurch, sich ein eigenes Bild zu machen.“ Ob es auch das richtige Bild ist, ist wohl nicht mehr zweifelsfrei zu ermitteln. CRISTINA NORD