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: Ströme der Erinnerung: Das kleine West-Berlin-Lexikon

Die Mauerstadt ist jetzt katalogisiert

Das mythische West-Berlin ist die Stadt, die es nicht mehr gibt; die Stadt mit dem unvergleichlich morbiden Flair, in der es bekanntlich nur Bundeswehrflüchtlinge, Alkoholiker, Studenten, Rentner und Türken gab. Berlin war für die Springerpresse „die Insel im roten Meer“, für die Zugezogenen nicht Deutschland, und wer hier wohnte, hatte nur den behelfsmäßigen Personalausweis. Das irgendwie doch gemütliche Leben in diesem Ausnahmezustand lässt sich schlecht in einem Lexikon erfassen, denn Fakten und Stichworte können nur schwer ein subjektives Lebensgefühl vermitteln. Aber wie kann man West-Berlin erklären? Mit wehmütigen Geschichten vom staubigen Krempelflohmarkt am Potsdamer Platz, vom fehlenden Umland und den seltenen Ausflügen ins Grüne? Mit Transitstorys und Intershopanekdoten?

Der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag hat Erfahrung mit Lexika, er hat sich geradezu auf Nachschlagewerke spezialisiert; es gibt schon ein berühmtes Selbstmörder-Lexikon, ein Comic-Lexikon, ein Helmut-Kohl-Lexikon und viele mehr. Im gerade erschienenen „West-Berlin-Lexikon“ nun versuchen die Autoren Ulf Mailänder und Ulrich Zander kollektive Erfahrungen, Fakten und historische Ereignisse in Stichworten zu vermitteln und West-Berlin zu katalogisieren. Die Stichworte unterteilen sich dabei in Ereignisse (wie den allerersten „1. Mai 87“ oder den „Maison-de-France-Anschlag“), in Personen und Biografien („Wolfgang Neuss“ oder „Heinrich Lummer“), in Begriffe und Lokalitäten (die „Kahlschlagsanierung“ und den „Blockschock“), Gruppen und Projekte (die „Taz“ und „Soilent Grün“).

Wie die West-Berliner Gesellschaft funktionierte, wie die Kultur über Politik und Wirtschaft dominierte, lässt sich aus diesen Stichpunkten allerdings kaum erfahren. Das Lexikon konzentriert sich auf die politischen und kulturellen Bewegungen der 70er- und 80er-Jahre und übernimmt leider oft den offiziellen Flugblattton und die Sprache der Grundsatzpapiere – langweilig.

Andererseits können beim Blättern Stichworte wie „Wilmersdorfer Witwen“, „Tütenpaula“ und „Abendschau“ Ströme der Erinnerung freisetzen. Ach, selig die Zeiten, als keiner vom Regierungsviertel sprach, die „Berliner Abendschau“ in Ermangelung anderer Nachrichten von der wundersamen Hausdach-Rettung eines verirrten Kätzchens durch die Berliner Feuerwehr berichtete und Sprecher Hans Werner Kock sich mit dem allabendlichen „Macht’s gut Nachbarn!“ verabschiedete. Die zwanghafte Lustigkeit des mutterwitzigen Stulleberliners, die sogar die Pandabären im Zoo nicht verschont und sie „Schnurz und Piepe“ nennt, wird angeprangert.

Was übrigens leider fehlt, sind berühmte West-Berliner Orte wie der Nollendorfplatz, das „Loft“, „Swing“ oder das „Linientreu“ am Zoo. Das hedonistische, schwule, feiernde, trinkende und koksende West-Berlin bleibt ein wenig unterbelichtet, Dafür wird der „Lappenkrieg“ erklärt: eine langwierige Provinzposse um die umständliche Beschlagnahmung von mit Anti-Reagan-Slogans beschrifteten Betttüchern durch die West-Berliner Polizei. Auch ausgestorbene West-Berliner Kulturphänomene wurden erfasst, zum Beispiel das Hochbettfieber: Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen baute jeder noch in die geräumigste Altbauwohnung eine zweite Holzebene ein, auf der geschlafen wurde. Aber gab es das Hochbettfieber nicht auch in „Westdeutschland“?

CHRISTIANE RÖSINGER

Ulf Mailänder, Ulrich Zander: „Das kleine West-Berlin-Lexikon“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003, 250 S., 12,90 €