Das Kreuzberger Flair

Der 1. Mai lockt Menschen aus der ganzen Republik nach Kreuzberg. Wie hoch der Anteil der auswärtigen Demonstranten ist, bleibt jedoch unklar. Nicht alle sehen sich als Krawalltouristen

von FELIX LEE

„Kreuzberg-Tours am Apparat. Ich rufe an wegen den Maifestspielen. Gibt es bei euch noch Pennplätze?“ So oder so ähnlich lautet so mancher Anruf dieser Tage in Kreuzberger WGs. Denn längst ist der Revolutionäre 1. Mai nicht nur ein lokales Happening, sondern lockt junge Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet in die „Hauptstadt der Randale“.

Zum Beispiel Katja* aus Göttingen. Sie kommt zum dritten Mal zur „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“. Doch an möglicher Randale will sie sich nicht beteiligen: „Dafür bin ich zu alt.“ Wie im vergangenen Jahr will sie sich zusammen mit ihrem Freund in ein Café am Heinrichplatz setzen, um sich von dort die Demonstrationen anzuschauen. Vor drei Jahren war sie das erste Mal dabei. „Ich war geschockt von der Polizeigewalt“, erinnert sich die 27-Jährige, die eigenen Bekenntnissen zufolge vorher eher unpolitisch war. „Seitdem bin ich dabei“ – wenn auch nur als Zuschauer.

Karl*, 27, aus Leipzig ist da radikaler. Er bekennt sich zur Randale. „Ich habe viele Gründe am 1. Mai auf die Straße zu gehen: Nazis, Sozialabbau, der Kapitalismus und seine Verwertungslogik.“ Aus seiner Sicht dürfen Krawalle aber nicht zum Selbstzweck verkommen. Aber „Sand im Getriebe“ findet er okay. „Einmal im Jahr können wir diesem Staat zeigen, wie scheiße wir ihn finden.“ Das sei für ihn der 1. Mai. Warum er dafür extra dafür nach Berlin kommen muss? Kreuzberg habe eben Flair.

„Krawalltouristen“ hat Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch sie letztes Jahr genannt. Kreuzbergs Polizeidirektor Stefan Weiß spricht von Jugendlichen, die „einmal im Jahr die Sau rauslassen“. Und im Kreuzberger Szenejargon heißen sie liebevoll „unsere Auswärtigen“ – für sie alle bleibt diese unbekannte Größe nur schwer zu fassen. Von den rund 15.000 Teilnehmern an den Revolutionären 1.-Mai-Demonstrationen im vergangenen Jahr wird der Anteil der Nicht-Berliner auf 10 bis 20 Prozent geschätzt. Genauere Zahlen sind nur schwer auszumachen – gerade was die Zahl der Teilnehmer an den abendlichen Randalen nach den Demonstrationen betrifft. Die Vermutungen der Polizei basieren auf Auswertungen rund 160 identifizierbarer Demonstranten der letzten beiden Jahre am 1. Mai. Etwa 40 von ihnen kamen nicht aus Berlin. Dazu gehörte auch Markus* aus Hannover: „Berlin hat das größte Militanzpotenzial“, meint der 22-Jährige. Hier gebe es mehr als „langweilige Latschdemos“.

Repräsentativ sind diese Zahlen ohnehin nicht. Denn identifiziert wurden nur die, die in den letzten Jahren festgenommen wurden – häufig Unorganisierte, die sich spontan den Krawallen angeschlossen haben. Viele der Auswärtigen kommen jedoch organisiert nach Berlin. Sie pflegen ihre Kontakte zu politischen Gruppen und sind gut über Fluchtwege in Kreuzberg informiert. Das gilt zum Beispiel auch für Yassim*, 29, aus München. Zwar ist er dieses Jahr das erste Mal dabei. Er kommt aber mit Freunden, die schon häufiger Kreuzberger Nächte miterlebt haben. Mit einer Festnahme rechnet er nicht. „Ich werfe keine Steine“, beteuert er. Yassim will einfach nur dabei sein.

Wie hoch die Zahl der gewaltbereiten Auswärtigen auch sein mag – vielleicht wird die Frage der „gewaltbereiten Auswärtigen“ am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ohnehin bald obsolet. Denn im Internet sind seit einiger Zeit heftige Standortdiskussionen im Gange. Die Räumung der Wagenburg Bambule in Hamburg und Demos gegen den Schill-Senat haben in den letzten Monaten viele linksradikale Demonstranten in die Hansestadt gelockt. Hamburg könnte damit Berlin den Ruf streitig machen. Den Ruf der „Hauptstadt der Randale“.

*Namen von der Redaktion geändert