der physiker von JÜRGEN ROTH
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Ich hatte nie gewollt, partout nicht, ob bloß eines dubiosen Widerwillens oder ob der gezielten Abwehr nostalgischer Anwandlungen wegen, das weiß ich nicht. Jahrelang hatte ich jeden Wisch, der mich zu einem Veteranentreffen zu locken versuchte, mit einer emphatischen Geste des Hochmuts zerrissen. Jetzt aber hatte es mich erwischt. Aus einem unklaren Herzensgrund wollte ich hinfahren – aus einer Regung, die kein Zurück erlaubte.

Der „Abi-Jahrgang 1987“ hatte zum Fünfzehnjährigen gerufen, und es sollten auch „Ehemalige“ kommen, die vor Erreichen der Matura der Schule den Rücken gekehrt hatten. Weil ich das Amos-Comenius-Gymnasium in Bonn schon nach der siebten Stufe verlassen hatte, beging ich also mein Einundzwanzigjähriges.

Ich beging es, indem ich hinfuhr, mit der Bahn und dann mit einem Bus, der nicht mehr fuhr, wo er 1981 gefahren war. Ich erkannte kaum mehr eine Straße und wusste mit Haltestellennamen nicht mehr viel anzufangen. Ich fand mich in einem raumzeitlichen Nichts wieder, in einer trostlosen Abgeschiedenheit, nicht, weil mir der Ort unbekannt war, sondern weil er mir einmal der vertrauteste gewesen war und weil er nun, wie es im Deutschen treffend heißt, nicht mehr „zu mir sprach“.

Ich hatte mir viel versprochen, doch da war nichts mehr, es war nur noch ein seltsames phänomenologisches Abstraktum, leer und kalt. Ich schlich durch das Gässchen und kam auf den Schulhof. Der Fußballplatz, auf dem wir als Fünftklässler die Siebtklässler sensationell weggeputzt hatten, war von einem hohen Zaun umgeben, und der Baum, unter dem ich mich das einzige Mal in meinem Leben geprügelt hatte, war verschwunden.

Ich ging zur Aula, in der das Treffen stattfinden sollte, und nahm nur als Schemen wahr, was wirklich war und was früher die Kulisse für ein gut Teil meiner Lebenswirklichkeit abgegeben hatte: die Gebäude, die Turnhalle, das Schwimmbad.

Vor der Aulatür standen drei Mittdreißiger, die ich nicht kannte. Ich grüßte, öffnete die Tür und betrat die Aula. Ein ehemaliger Klassenkamerad begrüßte mich, ich erkannte ihn nicht. Ich konnte mich weder an die Aula erinnern noch an die Namen, die in der Anwesenheitsliste verzeichnet waren. Ich erkannte kein einziges Gesicht. Kinder rannten umher, es roch nach Kuchen, leise waren die Dire Straits zu hören.

Viel später erkannte ich einen verspätet eintreffenden Ehemaligen, und es war mein ehemaliger Erzfeind, der nun ein arbeitsloser Physiker ist. Wir unterhielten uns lange, wir sprachen sehr vorsichtig darüber, was wir jetzt tun und was wir wahrscheinlich vor über zwanzig Jahren getan hatten, und dann gingen wir spazieren, und Martin, der Physiker, erklärte mir mit zögernder Stimme, wie man mit Protonenbeschleunigern die Berechnungen im Bereich der Lichtspektralanalysen verbessern könne und wozu das nützlich sei. Meine Philosophie sah da alt aus.

In euren Feinden sollt ihr euch erkennen, und so erkennt euch in eurer Beschränktheit, eurer Hochmütigkeit – dachte ich mir. Sehr vernünftig.