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Archiv-Artikel

Ein kleines Land und 130 Minister

In Bosnien und Herzegowina wird das Abkommen von Dayton immer mehr als Hemmschuh für die weitere Entwicklung in Richtung Europa empfunden

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

Seit Kroatien gute Aussichten hat, 2007 in die EU aufgenommen zu werden, sind die Bosnier unter Druck. Bosnien und Herzegowina verliere gegenüber anderen Staaten der Region auf dem Weg nach Europa immer mehr an Boden, beklagt die Presse in Sarajevo. Und da sich nun sogar die Türken auf Zypern dazu entschlossen haben, ihre alte Fehde mit den Griechen der Insel zu begraben, ist für Bosnien ein wichtiger Präzedenzfall geschaffen. Denn auch in Bosnien haben die Nationalisten die ethnischen Spannungen ausgenutzt, um ihre Macht in dem jeweiligen Teilstaat zu festigen. Das Beispiel Zypern zeigt aber, dass es möglich ist, tiefe Gräben zu überwinden, um das Ziel zu erreichen, das, glaubt man den Umfragen, auch die bosnische Bevölkerung anstrebt: ein normales und wirtschaftlich besseres Leben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.

Die Diskussion über die Revision des Friedensabkommens von Dayton, der geltenden Rechtsgrundlage für die Nachkriegsordnung, ist in den vergangenen Jahren nie zum Stillstand gekommen. Nun aber hat das Thema eine größere Dimension bekommen: Seit Dezember liegt ein 16-Punkte-Papier vor, das fordert, die im Dayton-Vertrag festgelegte Staatskonstruktion zu ändern, und von vielen europäischen Persönlichkeiten, darunter der CDU-Europaabgeordneten Doris Pack und dem Sozialdemokraten Hans Koschnick, unterzeichnet wurde. Viel beachtet wurde in Bosnien und Herzegowina zudem eine Analyse der in Berlin ansässigen European Stability Initiative (ESI), in der eine radikale Reform des seit dem Abkommen von Dayton in zwei Teile zerrissenen Staats vorgeschlagen wird. „Das Abkommen von Dayton 1995 hat den Frieden geschaffen, doch jetzt sind die damals ausgehandelte Verfassung und der damit entwickelte Staatsaufbau viel zu kompliziert und zu teuer“, erklärt der Menschenrechtler Srdjan Dizdarević in Sarajevo.

In der Tat. Der gemeinsame Staat der „konstitutiven Völker“ – Bosniaken (Muslime), Serben und Kroaten – ist in zwei etwa gleich große so genannte Entitäten geteilt, die Republika Srpska und die Bosniakisch-Kroatische Föderation. Die Föderation ist zudem in 10 Kantone unterteilt (siehe Kasten). Auf allen diesen Ebenen existieren eigene Parlamente und Regierungen, sodass über 130 Minister ein Land mit gerade mal dreieinhalb Millionen Einwohnern verwalten.

Der komplizierte Staatsaufbau bietet diverse Möglichkeiten, Reformen zu blockieren. Eifersüchtig wachen die Nationalparteien über ihren Einfluss auf Politik und Wirtschaft. Die damit verbundene Korruption erstickt viele Privatinitiativen. Deshalb müssen die internationalen Organisationen in Gestalt des Büros des Hohen Repräsentanten, der OSZE, der EU, der Nato, der Weltbank oder der Hilfsorganisationen immer wieder eingreifen. Es ist an der Tagesordnung, dass Gesetze vom Hohen Repräsentanten, dem Briten Paddy Ashdown, dekretiert werden. Wie schon seine Vorgänger setzte er auch mehrere gewählte Vertreter der Volksgruppen ab, weil sie blockierten, wo sie nur konnten, etwa wenn es darum ging, Flüchtlingen die Rückkehr zu erleichtern. Das gigantische Proporzsystem verschlingt zudem mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen – und das in einer Situation, in der die Wirtschaft noch immer ziemlich schwach ist. Die Arbeitslosenquote beträgt noch immer um die 50 Prozent.

Einig sind sich die Kritiker darin, die Bundesebene in Bosnien und Herzegowinas stärken zu wollen. Dazu schlägt die ESI ein mit seiner Kantonstruktur entfernt an die Schweiz erinnerndes Gebilde vor. Die Bosniakisch-Kroatische Föderation soll aufgelöst und die Republika Srpska zu einem Kanton heruntergestuft werden. Niemand müsste mehr von „Entitäten“ sprechen. Nichtnationalistische Kräfte wie etwa die Sozialdemokraten begrüßten den Vorschlag sogleich.

Doch in fast allen Landesteilen dominieren Nationalisten der drei größten Volksgruppen. Sie müssten ihrem Machtverlust erst zustimmen. Dass Milorad Dodik von den serbischen unabhängigen Sozialdemokraten, ehemals Premierminister der bosnischen Serbenrepublik, den ESI-Vorschlag ebenfalls begrüßt, zeigt wenigstens: Auch auf serbischer Seite kommt Bewegung in die Debatte. Mit der Verhaftung von mehreren Hintermännern des als Kriegsverbrecher gesuchten Radovan Karadžić ist die Position der serbischen Nationalisten zudem schwächer geworden. Zwar versuchte deren Spitzenpolitiker, Dragan Kalinić, letzte Woche trickreich, die Bosniakisch-Kroatische Föderation zu verteidigen, um die Republika Srpska zu retten. Doch damit entpuppte er sich weiterhin als Blockierer.

In den anderen Nationalparteien dagegen bröckelt der Widerstand. Die Kroatische Demokratische Union (HDZ) signalisiert Zustimmung zur Abschaffung der ohnehin ungeliebten Föderation und vertraut auf ihren Einfluss in jenen Kantonen, in denen Kroaten die Mehrheit haben. Der Chef der muslimisch-bosniakischen Nationalpartei SDA und Mitglied des Staatspräsidiums, Sulejman Tihić, bemängelte zwar an dem ESI-Entwurf, dass die Republika Srpska künftig als größter Kanton weiterbestehen soll, betonte andererseits aber doch Reformbereitschaft. „Für die Bosniaken ist die EU-Mitgliedschaft ohne Alternative,“ erklärte er.

Die Diskussion um eine Neuordnung des Landes hat in Bosnien und Herzegowina nun also ernsthaft begonnen. Will das Land wirtschaftlich und politisch nicht weiter an Boden verlieren, braucht es Veränderungen. „Wir können als internationale Gemeinschaft nicht die Integration in die EU dekretieren“, sagt Werner Wendt, Stellvertretender Hoher Repräsentant. „Den Weg dahin zu finden, das müssen die Bosnier aller Volksgruppen gemeinsam schaffen.“ Zypern kann dafür ein Beispiel sein.