: 60 Milliarden Wertverlust in einem Jahr
Die Hauptversammlung der Allianz wurde von frustrierten Aktionären und optimistischen Managern bestimmt
HAMBURG taz ■ Sein letzter Tag als Vorstandsvorsitzender der Allianz wurde lang. Auf der Münchner Hauptversammlung wollten Dutzende Aktionäre dem alten Steuermann der größten europäischen Versicherung, Henning Schulte-Noelle, nach einem Katastrophenjahr noch einmal persönlich die Meinung geigen. Schließlich hatte ihr Lieblingspapier in nur zwölf Monaten über 65 Prozent an Wert verloren.
Unverschuldete und hausgemachte Probleme summierten sich zu einem Verlust von 1,2 Milliarden Euro, dem schlechtesten Ergebnis der 113-jährigen Firmengeschichte. „Ich habe während meiner Zugehörigkeit zum Unternehmen noch nie erlebt, dass sich in einer derart kurzen Zeitspanne so viele gravierende Risiken gleichzeitig realisieren“, klagte Schulte-Noelle nach zwölf Jahren als Vorstandsboss. Vor allem die seit drei Jahren taumelnden Börsenkurse haben das Kapital angefressen. Der Wert der Finanzanlagen sank 2002 um 60 Milliarden Euro. Pech hatte die Allianz auch im eigentlichen Versicherungsgeschäft: Schäden durch Umweltkatastrophen wie das Mulde- und Elbhochwasser nahmen drastisch zu.
Aber die Allianz leidet auch unter hausgemachten Problemen. Die geplatzte Fusion zwischen Dresdner und Deutscher Bank, mit der die Allianz weiterhin befreundet ist, nennt Allianz-Aufsichtsrat Rudolf Hickel „die größte Niederlage für Schulte-Noelle“. Die zweitbeste Lösung, der Kauf der Dresdner Bank, droht zu einem teuren Flop zu werden, der wohl noch mehr als die bislang geplanten 11.000 Jobs kosten wird.
Immerhin läuft das Bankgeschäft seit Januar wieder erfreulicher, hieß es in München. Unterm Strich sieht die Zukunft rosiger aus, als es die Horrorzahlen 2002 ahnen lassen. Die von der Politik vorangetriebene Rentenangst treibt die Bundesbürger in Scharen in die Arme des Marktführers für Kapitallebensversicherungen, die Beitragseinnahmen stiegen im ersten Quartal 2003 um neun Prozent. Auch in den USA und Italien boomt das lukrative Geschäft mit langfristigen Geldanlagen. Außerdem soll das in den guten Börsenjahren vernachlässigte Sachversicherungsgeschäft endlich wieder Gewinne abschmeißen. Obendrein verfügt die Allianz trotz Börsenflaute über konzerneigene Vermögenswerte von 403 Milliarden Euro und verwaltet für Dritte Anlagen von weit mehr als 500 Milliarden Euro. Vertrauen in den Koloss haben auch die Finanzmärkte. In der größten Kapitalerhöhung, die hierzulande je durchgeführt wurde, fließen der Allianz 4,4 Milliarden Euro für neue Aktien zu.
Darauf kann der neue Allianz-Boss aufbauen. Schulte-Noelle (62) ist es gelungen, seinen Ziehsohn Michael Diekmann (48) reibungslos zum Nachfolger zu küren. Er selber wird – nach Redaktionsschluss – den Vorsitz im Aufsichtsrat übernehmen.
HERMANUS PFEIFFER