Simulation einer Revolution

Nach der Ansetzung eines Sonderparteitags zur „Agenda 2010“ sind die Regionalkonferenzen nur noch Schauplätze für das innerparteiliche Machtspiel

aus Bonn JENS KÖNIG

Dies ist eine Revolution ganz nach sozialdemokratischer Art. Sie ist vollklimatisiert. Die Aufständischen sitzen im Festsaal des Maritim-Hotels in Bonn auf Stühlen mit goldener Messinglehne. Sie nennen sich „die Basis“. Sie tragen Anzüge und schicke Kostüme. Ihnen gegenüber, vorn auf der Bühne, thront das alte Regime: der Kanzler, sein General und mehrere Minister. Das Regime hat den Aufstand gegen sich perfekt durchorganisiert. Ab und zu kämpft sich ein Vertreter der „Basis“ auf die Bühne und kritisiert oder lobt das Regime für dessen Politik. Sofort schlägt ein Vertreter der Macht zurück. Die Rednerliste, das sozialdemokratische Pendant zur rohen Gewalt, gibt der Revolution ihren geordneten Ablauf. Der Kanzler und seine Getreuen – sie alle dürfen ihre subversiven Pläne erklären. Die Aufständischen sitzen im Saal, sie hören zu und nicken und schütteln den Kopf und klatschen und pfeifen. Draußen im Foyer gibt es Eintopf und Kölsch auf Marken.

Wohl nicht zufällig trägt diese sozialdemokratische Revolutionssimulation am Montagabend den Titel „Regionalkonferenz West“. Auf ihr ist nichts, wie es scheint. Ursprünglich hatte die SPD-Führung vier Regionalkonferenzen einberufen, um einen Sonderparteitag zu verhindern. Über die umstrittenen sozialpolitischen Reformpläne der Parteispitze sollte bestenfalls diskutiert, unter keinen Umständen jedoch abgestimmt werden. Aber jetzt, wo die Kritiker der so genannten Agenda 2010 von Gerhard Schröder nicht nur ein Mitgliederbegehren in der SPD organisiert, sondern auch einen Sonderparteitag durchgesetzt haben, sind die Regionalkonferenzen nur noch Schauplätze für das innerparteiliche Machtspiel. Die Parteilinke glaubt, mit Hilfe dieser Veranstaltungen die Kanzler-Agenda in einigen Details noch ändern zu können. Das Schröder-Lager möchte seinen Reformplänen eine innerparteiliche Legitimation verschaffen, die es mit den wiederholten autoritären Drohungen des Kanzlers nicht zu geben vermag. Und in der Mitte eingeklemmt ist eine sozialdemokratische Basis, die eigentlich gern auf die Barrikaden gehen würde.

Dabei wollen die Genossen in der Tiefe ihres Herzens nur eine Antwort auf die Frage, was an der Politik der SPD heute eigentlich noch sozial gerecht ist. Denn der Sozialdemokrat an sich ist verwirrt. Wenn seine Besitzstände angegriffen werden, sagt er reflexhaft Nein. Kommt sein Parteichef und erklärt ihm, das sei schon noch sozial gerecht, sagt er Ja. Ist der Parteichef wieder weg, sagt er Vielleicht. „Wenn ich mit meinen Kollegen über das Reformpaket diskutiere“, erzählt ein Gewerkschaftsvertreter in Bonn, „dann stoße ich auf Zustimmung, auf Ablehnung und auf Skepsis.“

Ja, ja, sagt der Kanzler, ich verstehe das, und er tut so, als verstünde er es wirklich. In der halben Stunde, die Schröder auf die 750 Funktionäre aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland auf dieser ersten Regionalkonferenz einredet, spricht er viel von sozialdemokratischen Traditionen und von Gerechtigkeit. Dabei ist sein Leitmotiv ein ganz anderes: Ihr, liebe Leute da unten, versteht nicht, worum es geht. „Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen“, sagt Schröder mehrmals. Er zählt sie gern nochmal auf: schwierige internationale Lage, weltwirtschaftliche Stagnation, höhere Lebenserwartung der Menschen, Geburtenrückgang und und und. „Unsere Politik, die wirtschaftlichen Zuwächse gerechter zu verteilen als andere, ist ans Ende gekommen, weil es diese Zuwächse nicht mehr gibt“, ruft der Kanzler.

Mit Details hält sich Schröder an diesem Abend nicht auf. Über die Streitfragen seiner Agenda 2010, vom Krankengeld bis zur Rente ab 67, verliert er kein einziges Wort. Dem Kanzler geht’s ums Prinzipielle. Unsozial sei nicht, wenn man von den Leuten mehr fordere, sagt er. „Unsozial ist, wenn einer, der arbeiten könnte, nichts tut und sich auf die Gemeinschaft verlässt.“ Tosender Beifall für diese Rede. Man traut seinen Ohren kaum. Überzeugt Schröders bewusste Überhöhung des Konflikts etwa die verunsicherten Genossen?

Gemach, gemach, die sozialdemokratische Seele ist ein kompliziertes, anfälliges Gebilde. Zwanzig Minuten nach Schröder spricht Ottmar Schreiner. Schreiner guckt immer ein bisschen so, als hätte er die Flucht seines einstigen Gönners Oskar Lafontaine bis heute nicht verwunden. Dabei ist ausgerechnet die Abwesenheit dieses Herrn L. der Grund dafür, dass Schreiner in der SPD heute als linke Galionsfigur gehandelt wird. Das sagt nicht viel über Schreiner, aber alles über die SPD. Schreiner kämpft ganze fünf Minuten gegen Schröders Reformvorschläge. Punkt für Punkt. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes für die Älteren? „Blanker Zynismus.“ Die Privatisierung des Krankengeldes? „Schwächt die Massenkaufkraft.“ Die Agenda 2010 als Ganzes? „Bringt nur mehr Arbeitslose.“ Der Saal rast vor Begeisterung. „Zugabe!“, rufen die gleichen Genossen, die eben ihrem Parteichef Beifall geklatscht haben, „Zuugaaabe!“

Ein richtiger Genosse lässt sich in seinen Emotionen aber auch wieder zügeln. Diese Rolle übernimmt dank ausgeklügelter Tagungsregie ein typischer Vertreter der Basis: Peer Steinbrück, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. „Ottmar Schreiner vermittelt den Eindruck, als könnten die Sozialsysteme weiter funktionieren wie bisher“, sagt Steinbrück kühl und streng. „Ihr wisst, dass das nicht geht. Wenn ihr zu zweit oder zu dritt untereinander diskutiert, gebt ihr das auch zu – nur nicht auf Delegiertenkonferenzen.“ Dieser kleine Appell ans schlechte Gewissen reicht, um an diesem Abend wieder Ordnung herzustellen. Die Veranstaltung nimmt bis zum Ende ihren geregelten Verlauf. „Solange wir Essenmarken austeilen, sind wir sowieso keine Reformpartei“, sagt ein älterer Genosse beim Hinausgehen.