Flucht in die Naivität

Gute Laune als Überlebensstrategie: Abbas Khiders überzeugender, radikal unsentimentaler Flüchtlingsroman „Der falsche Inder“

VON INES KAPPERT

Das Verführerische an diesem als Reisebericht angelegten Roman von Abbas Khider ist die gute Laune, die er verströmt. Seine Hauptfigur sieht nach eigenen Angaben unverschämt gut aus und hat daher Glück bei den Frauen und Spaß mit ihnen. Trotzdem ist Rasuls Reise kein Vergnügen. „Ich erreichte Amman. Nicht als Urlauber, sondern als Flüchtling.“

„Der falsche Inder“ von Abbas Khider ist ein radikal unsentimentaler Fluchtreport. Er beschreibt die schmerzhaften und sich über viele Jahre hinziehenden Versuche eines Irakers, nach Europa zu gelangen. Rasuls Ziel ist Schweden, seine Endstation heißt Bayern – München, um genau zu sein. Dazwischen liegen Jahre in Jordanien, Libyen, Tunesien, der Türkei, Griechenland und in Italien.

Khider ist ein politischer Autor; sein Roman autobiografisch eingefärbt. Zwar hält er sich nicht damit auf, die Verhältnisse im Irak oder in den durchreisten Ländern en detail zu beschreiben. Er wirft nur Schlaglichter, aber die sind präzise. Vor allem aber macht er die Perspektive der Flüchtenden plastisch. In jeder neuen Stadt läuft die Orientierung nach folgendem Schema ab: Wo ist der Bahnhof? Dort nämlich finden sich die „Freunde“ und die haben den Kontakt zum nächsten Schlepper. Gibt es Arbeit? Alles ist gut genug – nur Zuhälterei geht nicht. Wie sehen die Frauen aus, kann man sie anmachen? Und: Wie hält man sich die Ordnungshüter wenigstens halbwegs vom Leib?

Khider naiver Erzählstil ist zu Anfang gewöhnungsbedürftig, doch mit der Zeit enthüllt er sich als Teil einer erprobten Überlebensstrategie. Denn würde seine Hauptfigur auf die ihr widerfahrende Grausamkeit anders als mit schulterzuckender Ungläubigkeit reagieren, im Handumdrehen wäre ihr Wille gebrochen. Würde Rasul ernst nehmen, wer sich alles über ihn ermächtigen und sein Schicksal spielen kann, er würde sich sofort umbringen.

Lästigerweise kommen die Klischees hinzu, die jede Gesellschaft von „dem Fremden“ pflegt. Rasul beispielsweise gilt den meisten Menschen als Inder. Für einen Iraker sei seine Hautfarbe zu dunkel. All seinen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz: Unbeirrt wird er, der Iraker, zum „falschen Inder“ gestempelt. Doch auch diese ganz alltägliche Zumutung tropft an Rasuls unerschütterlicher Freundlichkeit ab. Es ist, als hätte er sich eine Art unsichtbaren Regenmantel übergestreift. Unerlässlich für diese Schutzhaut und ihre fortwährende Reparatur ist das Schreiben – Rasul betreibt es obsessiv. Denn muss er das schriftliche Selbstgespräch abbrechen, stürzt er in die Leere ab. „Keinen-Zustand“ nennt er sie.

Die vollgeschriebenen Zettel verliert oder verschenkt er. Intuitiv hat er begriffen: Will er überleben und irgendwann doch in einer westlichen Demokratie ankommen, darf er an nichts festhalten. Er muss in Bewegung bleiben. Konkret heißt das: Frauen, die schön und freundlich sind, umarmt er; Gefängnisse und andere hässliche Behausungen nimmt er hin und vergisst sie – so gut und so schnell es geht. Unflexibel ist er nur in einem Punkt: Er wird nicht in einem Land leben, in dem nur die Bilder des Präsidenten die Straßen säumen. Die Konsequenzen nimmt er in Kauf. Unzählige Male wird Rasul von der Polizei aus Zügen und Lastwagen gezerrt und landet immer wieder im Knast. Dort gilt es zu überdauern; wenn nötig kritzelt er die Wände voll. Und immer wieder hat er Glück und wird freigelassen, genauso wie er immer wieder einfährt. Europa kommt er nur sehr langsam näher.

Der Roman erzählt die Flucht nicht linear, sondern bündelt sie nach Motiven. Unter je neuen Überschriften wird die eine große Flucht erneut erzählt und erhält eine weitere Facette. Dabei laufen im Subtext stets zwei Fragen mit. Sie lauten: Wie lebt man weiter, wenn so viele schreckliche Erfahrungen in Kopf und Körper stecken? Und: Wie lässt sich einem vergleichsweise gut situierten Publikum vermitteln, wie es sich anfühlt, über Jahre hinweg als Freiwild von Bahnhofsplatz zu Bahnhofsplatz zu stolpern?

Für beide Fragen hat Khider die gleiche Antwort: Man muss sich und anderen gute Geschichten erzählen. Man muss sich und andere gut unterhalten. Man sollte jetzt keine ausgefeilte Literatur erwarten – doch dank ihres Humors und ihrer Leichtigkeit durchdringt seine Schilderung die Schutzschicht, die wir Leser häufig angelegt haben, um uns vom Elend der anderen nicht die Laune verderben zu lassen. Gerade weil Khider uns bei Laune hält, gerade weil seine Lakonie kein Mitleid zulässt, gerade deshalb berührt seine Geschichte und eröffnet eine neue Perspektive auf „die Flüchtlinge“. Sie werden wieder zu Einzelpersonen.

Abbas Khider: „Der falsche Inder“. Edition Nautilus, Hamburg 2008, 160 Seiten, 16 Euro