ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Ein Ticket für meinen Ethikrat

Ich bin ohne Fahrschein angetroffen worden. Schuld daran ist die Volontärin. Und nun? Strafe muss sein

Schwarzfahren ist okay. Ticket kaufen auch. Ticket haben und trotzdem beim Schwarzfahren erwischt werden, ist blöd. Das gibt es gar nicht? Mir ist es passiert. Am vergangenen Dienstag.

Und das kam so: „Hat jemand einen Fahrausweis?“, rufe ich durchs Büro. Ein Auto kann sich unsereiner ja nicht leisten. Unsereiner sind alle, die zu wenig Geld verdienen, um sich einen Neuwagen zu kaufen, und zu wenig handwerklich begabt, um erfolgreich an einem Gebrauchten herumzuschrauben. Wir müssen Fahrrad fahren und können bestenfalls ein bisschen billiges Ökoprestige mitnehmen.

Bei Eis und Schnee geht noch nicht einmal Fahrradfahren. Und deshalb rufe ich jetzt noch einmal: „Hat jemand einen Fahrausweis? Tageskarte oder Umweltticket? Ich bin in zwei Stunden zurück.“ Unsere nette Volontärin gibt mir freundlicherweise ihre Wochenkarte. Ich steige in die U-Bahn. Wie es der Teufel will, kommen nach zwei Stationen ein Kontrolleur und eine Kontrolleuse. Ich zeige die Wochenkarte der Volontärin vor.

– „Die ist abgelaufen“, sagt die Kontrolleuse.

– „Was?“, sage ich.

An der nächsten Station muss ich aussteigen. Ein dramatischer Verlust an Sozialprestige? Eine peinliche Situation? Bohrende Blicke der Mitfahrer, als sei ich ein Aussätziger? Nein, wir sind in Berlin.

Aber selbst in Berlin müssen Schwarzfahrer zahlen. 40 Euro. Aber ich bin ja kein Schwarzfahrer: Ich habe eine Wochenkarte. Die Wochenkarte ist am Dienstag abgestempelt worden. Heute ist wieder Dienstag.

– „Von Dienstag bis Dienstag. Genau eine Woche“, sage ich.

– „Nee. Eine Woche hat sieben Tage. Dienstag: eins, Mittwoch: zwei, Donnerstag: drei …“, zählt die Kontrolleuse mit den Fingern vor, „Freitag: vier, Samstag: fünf, Sonntag: sechs, Montag: sieben. Dienstag: Schwarz gefahren.“

– „Das sind doch Spitzfindigkeiten“, sage ich.

– „Allerdings“, sagt die Kontrolleuse und nimmt meine 40 Euro. „Dafür dürfen Sie jetzt noch bis zu Ihrer Zielhaltestelle weiterfahren. Guten Tag.“

Ein Hohn. Schuld daran ist natürlich die Volontärin. Und Strafe muss sein. Aber welche? Bei solchen Gelegenheiten tritt immer mein innerer Ethikrat zusammen. Ethikräte sind schick geworden in jüngster Zeit: Der Bundeskanzler hält zwei oder drei davon. Die Zeit veröffentlicht regelmäßig eine Ethikrat-Kolumne, in der mit Horaz, Tocqueville und Adorno analysiert wird, ob Silvio Berlusconi das Recht habe, sich liften zu lassen. Zugegeben: Mein Ethikrat ist nicht ganz so prominent besetzt. In meinem inneren Ethikrat sitzen

a) meine Mutter,

b) mein Vater und

c) der Nachbar meiner Eltern, der dreißig Jahre IG-Metall-Betriebsrat war und bis heute nicht einsieht, warum Jungs Ohrringe tragen müssen.

Man könnte jetzt annehmen, ich hätte mich von gewissen frühkindlichen Prägungen nie emanzipiert. Das stimmt nicht. Die drei genannten decken einfach die wichtigen moralphilosophischen Strömungen des Abendlandes ab. Nämlich:

a) jeder muss für seine Taten gerade stehen

b) man muss auch einmal fünfe gerade sein lassen

c) es gibt in dieser Gesellschaft zu viel soziale Ungerechtigkeit – und zu viel Unfug.

Praktisch ist, dass ich meinen Ethikrat nicht wirklich zusammenrufen muss. Ich weiß auch so, was das Personal meines Ethikrats raten würde. In diesem Fall rät es:

a) Die Volontärin muss 20 Euro zahlen, denn es war auch ihre Verantwortung.

b) Mach der Kleinen keinen Stress. Vergiss die 40 Euro.

c) Die Auszubildende muss als sozial Benachteiligte die 40 Euro nicht ersetzen. Aber du schreist sie so lange an, bis sie weint.

Hm, schwierig. Vielleicht sollte ich doch auch noch Tocqueville zu Rate ziehen. Erst mal sage ich gar nichts. Als ich in die Redaktion zurückkehre, fragt mich die Volontärin:

– „Kann ich meine Wochenkarte wiederhaben?“

– „Nein!“, fauche ich.

A, B, C oder D? kolumne@taz.de

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