Anarchie im Rathaus

Wenn alle verstritten sind, sagt endlich jeder, was er denkt

HAMBURG taz ■ Endlich mal als Abgeordneter das sagen, was man immer schon sagen wollte: Wie es in deutschen Parlamenten zugehen würde, wenn nicht die Fraktionsvorsitzenden mit dem Knüppel in der Hand jegliche Abweichung vom Koalitionszwang abstrafen würden, lässt sich zurzeit in der Hamburger Bürgerschaft beobachten.

Nachdem die Regierung sich im Dezember selbst abgeschafft hat, fühlen sich vor allem die Parlamentarier der beiden Schill-Fraktionen in der Bürgerschaft an keine Absprachen des Regierungslagers mehr gebunden. Die Hamburger Morgenpost titelte schon „Anarchie in der Bürgerschaft“.

Tatsächlich werden Senatsbeschlüsse, die die Schill-Leute bis zum Platzen der Koalition mit verbissener Miene verteidigt hatten, nun von denselben Leuten heftig kritisiert. Die vom Senat geplante Privatisierung der öffentlichen Krankenhäuser, eines der Hauptthemen dieses Wahlkampfes, war für die Schillianer bislang stets eine heilige Kuh. Plötzlich stellen ihre Abgeordneten fest, die staatlichen Kliniken dürften „nicht zum Spekulationsobjekt eines dubiosen Krankenhauskonzerns werden“. Das ganze Verfahren sei „völlig intransparent fürs Parlament abgelaufen“. Die Opposition jubelt, betretenes Schweigen bei CDU und FDP.

So wechselten die Mehrheiten in den Bürgerschaftssitzungen seit Dezember lustig hin und her. SPD, Grün-Alternative Liste und die zwei Schill-Fraktionen stimmten zum Beispiel gemeinsam dafür, die Zwangsmitgliedschaft von Unternehmen in der mächtigen Handelskammer auf den Prüfstand zu stellen, und kippten die Finanzierung des Umbaus von Hamburgs Vorzeigemeile, dem Jungfernstieg.

„Frei von Koalitionszwängen macht die Arbeit sogar richtig Spaß“, entdeckt Katrin Freund, die Chefin der Ronald-Schill-Fraktion, die Freude am Parlamentarismus neu. Nur schade, dass mit der Wahl am Sonntag damit wieder Schluss ist. PETER AHRENS