Zutritt nur für kühne Hanseaten

Darf ein Hamburger Jung kneifen? Niemals. SPD-Kandidat Mirow punktet unverhofft gegen von Beust, und plötzlich ist der Wahlausgang wieder offen

AUS HAMBURG SVEN-MICHAEL VEIT

Der Mutmacher erfüllte seine Aufgabe blendend. „Nehmt alles mit, was Beine hat. Sagt ihnen, dass noch nichts verloren ist“, beschwor Joschka Fischer sein Publikum. „Zu wichtig“ sei diese Wahl, „auch für Berlin“, auch „für Reformpolitik in diesen schwierigen Zeiten“, wichtig zudem „für den Ruf dieser Stadt, der so schwer beschädigt wurde in den vergangenen zwei Jahren“: Nichts ließ die Eminenz der Grünen aus am Dienstagabend im proppenvollen Schauspielhaus am Hamburger Hauptbahnhof, keinen rhetorischen Kniff, um den mehr als 1.000 grünen Fans neuen Schub zu geben für die letzten paar Tage des Wahlkampfs in der Hansestadt.

Begeisterungsstürme löste er aus, der grüne Motivator, als „Befreiungsschlag“ empfand die lokale Parteiprominenz hinterher beim Bier seinen Auftritt. Ein rot-grüner Sieg bei der Bürgerschaftswahl am Sonntag, der schon unerreichbar schien angesichts der vermeintlichen Unbesiegbarkeit von Sonnyboy-Bürgermeister Ole von Beust, scheint wieder in greifbare Nähe gerückt. Glauben sie zumindest, die von der Grün-Alternativen Liste (GAL), und die von der SPD glauben das auch wieder.

Dabei hat sich demoskopisch betrachtet seit Wochen nichts geändert im Lagerwahlkampf im Norden. Etwa 30 rote und 14 grüne Prozentpunkte, lauten stabil die Prognosen. Aber 44 bis 47 Prozent werden von Beust vorhergesagt – nicht seiner CDU, die einzig auf das „Programm Ole“ setzt. Ein Kampf, der mit einem rot-grünen Erfolg oder – erstmals in der Geschichte der einstigen SPD-Hochburg – auch mit der absoluten Mehrheit der Christdemokratie enden kann. Die wochenlang lässig zur Schau getragene Siegesgewissheit des Bürgermeisters aber hat Risse bekommen, ausgerechnet jetzt im Endspurt.

Denn verändert hat sich in dieser Woche die Psychologie des Wahlkampfes. Mit überzeugenden Auftritten hatte Thomas Mirow, Ole von Beusts Kontrahent von der SPD, in den beiden direkten Spitzenkandidaten-Duellen mit dem Titelverteidiger punkten können. Der 51-jährige ehemalige Wirtschaftssenator, ein detailverliebter Aktenfresser und Ausbund an Seriosität, ist der personifizierte Gegenentwurf zum als lebenslustig geltenden von Beust und dessen einstigem Skandalpartner Ronald Schill. „Unhanseatisch“ zu sein ist noch immer die schlimmste aller denkbaren Beschimpfungen in der Hafenstadt an der Elbe Auen, und genau das vermag Mirow niemand nachzusagen. Aber von Beust tat es: Weil er in einem Juso-Flugblatt als „faul“ bezeichnet wurde, sagte der Bürgermeister das dritte und letzte TV-Duell mit Mirow am Mittwoch ab – ein böser taktischer Fehler, denn ein „Hanseat“ kneift nicht.

Genau dieses Vorwurfs aber muss von Beust sich nun erwehren. Das republikweite Medienecho ist verheerend für ihn, Bundeskanzler Gerhard Schröder attestierte ihm öffentlich „Feigheit“ – und SPD und GAL in Hamburg wollen erkannt haben, dass von Beust verwundbar ist. Der präsidiale Bürgermeister, der nur bedingt als faktensicher gilt und Politik als „zu 70 Prozent Symbolik, und die beherrsche ich“, begreift, zeigt Nerven angesichts der ruhigen und rein auf Sachkompetenz setzenden Auftritte seines Gegenspielers Mirow. Mehr Stimmen kann von Beust im direkten Duell nicht mehr bekommen, er kann nur noch etliche verlieren und damit die Chance auf Alleinherrschaft.

Kein Wunder also, dass er zugleich Signale an den bisherigen Koalitionspartner FDP sendet. Die sei sein „Wunschpartner, wenn es mit der absoluten Mehrheit nicht klappt“. Die – ebenso wie Ronald Schills neue Partei ProDM/Schill – bei 4 Prozent dümpelnden Liberalen bejubeln diese Aussage lautstark als willkommene Kletterhilfe über die Fünfprozenthürde, Rote und Grüne werten sie als Beweis der Schwäche.

Auch dass Hamburgs CDU-Parteichef Dirk Fischer plötzlich die Partei Rechtsstaatlicher Offensive wieder für koalitionsfähig erklärt, ist Wasser auf rote und grüne Mühlen: „Die Wähler werden im Unklaren gelassen“, befindet die SPD und fordert von von Beust ein Machtwort. Denn der hatte bislang ein neues Bündnis mit Schill sowie mit der ehemaligen Schill-Partei kategorisch ausgeschlossen – kein großes Risiko angesichts von weniger als 2 Prozent, die seinem Nochpartner vorhergesagt werden.

Kein Wunder also, dass SPD und GAL in der letzten Phase darauf setzen, den schwächelnden Bürgermeister zu provozieren. „Realitätsferne“ attestiert ihm die grüne Spitzenkandidatin Christa Goetsch. Sie erteilt allen Spekulationen über eine schwarz-grüne Option eine klare Absage: „Unsere Übereinstimmungen mit der CDU liegen im Nanobereich“, weiß die Physiklehrerin. Auch Mirow legt sich eindeutig auf Rot-Grün als „Wunschkoalition“ fest, lässt sich aber die Tür zu einer großen Koalition „als Notlösung“ offen.

Denn bei allem neu erwachtem Optimismus ist der Wahlausgang am Sonntag unvorhersehbarer denn je: Rot-Grün oder Ole pur gilt nur bei drei Parteien in der Bürgerschaft. Käme die FDP hinzu, würde der Senat schwarz-gelb. Sollte aber auch der gnadenlose Richter wieder zum Volksvertreter gekürt werden, würden die politischen Lager wohl geräumt werden müssen. Dann regieren von Beust und Mirow gemeinsam.