Ein schmaler Steg

Drum prüfe, wer sich länger bindet: Der ganz persönliche Wohngeschmack, die eigene Note, ist etwas Wunderbares – aber für den Partner auch manchmal der Anfang vom Ende

von AXEL KRÄMER

Bei Marie und Jess hängt der Haussegen schief. Dabei sind sie gerade erst dabei, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, die Umzugskartons haben sie soeben ausgepackt. Schuld an der Auseinandersetzung ist ein Möbelstück von Jess. Wie soll man es beschreiben? Eigentlich ist es ein Couchtisch. Denkt man sich die Glasscheibe weg, sieht es eher aus wie ein horizontal gekipptes Wagenrad von einer Pferdekutsche. Ein sehr rustikales Design also. Nicht unbedingt jedermanns Sache. Marie jedenfalls hat das Gefühl, sich keineswegs damit abfinden zu können. „Das Ding ist so furchtbar, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, wenn man es erklären will“, stöhnt sie.

Für ihn sind mit „dem Ding“ jedoch Erinnerungen verbunden. „Es gibt mir das Gefühl von Heimat.“ Hilfesuchend wendet er sich an einen Freund, der zufällig dem Streit beiwohnt. „Harry, sag etwas! Irgendjemand muss auf meiner Seite sein.“ „Ich bin doch auf deiner Seite“, behauptet Marie, „ich möchte dir nur helfen, einen guten Geschmack zu entwickeln.“ Jess empfindet diese Bemerkung als Beleidigung. Der Vorwurf, über kein ästhetisches Feingefühl zu verfügen, zählt zwar gemeinhin zu den eher harmlosen Kränkungen in einer Partnerschaft – akzeptieren mag ihn aber eigentlich kaum jemand, und nicht selten kann es darüber zu anhaltendem Streit kommen. Im Fall von Marie und Jess wird er einstweilen dadurch beigelegt, dass der Couchtisch auf dem Sperrmüll landet. Doch Marie hat schon angedeutet, dass demnächst Jess’ Barhocker zur Debatte stehen.

Die Szene aus Bob Reiners Filmkomödie „Harry und Sally“ illustriert eine Situation, wie sie fast jeder schon erlebt hat: Zwei Menschen wollen zusammenziehen, doch an den unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie das Heim ausgestattet, wie es genutzt und wohnlich gemacht werden soll, entzünden sich rasch – und häufig ganz ungeahnt – die ersten Auseinandersetzungen. Die lassen sich meist nur dann vermeiden, wenn Größe und Grundriss einer Wohnung es erlauben, dass sich beide ihre eigenen Räume einrichten und gestalten. Deshalb legen manche Paare auch Wert darauf, dass jeder von ihnen über ein eigenes Schlafzimmer verfügt; andere brauchen sogar ihr eigenes Bad.

Vielleicht am anschaulichsten gelebt haben dieses eher nachbarschaftliche Wohnmodell Frida Kahlo und Diego Rivera. Die beiden Künstler benötigten so viel räumliche Distanz, dass sie eigens zwei eng zusammenstehende Häuser bauen ließen. Das eine rot, das andere blau. Im zweiten Stock waren sie durch einen schmalen Steg verbunden.

Nebeneinander statt miteinander – für viele Paare kommt so viel räumlicher Aufwand schon aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Wie etwa bei Sven und Anja, die sich vor zweieinhalb Jahren kennen lernten und vor einiger Zeit gemeinsam in eine Berliner Wohnung zogen. „Wenn man sich schon dafür entscheidet, einen Teil des Lebens gemeinsam zu gestalten, dann muss man auch so viel Raum wie möglich gemeinsam nutzen“, sagt Sven, von Beruf Architekt und insofern mit Raumplanung bestens vertraut. „Alles andere ist doch nur ein fauler Kompromiss, um Konflikten aus dem Weg zu gehen.“

Tatsächlich gibt es in Anjas und Svens Wohnung keinen abgetrennten Raum. Die Küche öffnet sich zum Wohn- und Essbereich, selbst die Schlafecke ist nur durch einen Paravent abgetrennt. Die einzige Tür in der Wohnung führt ins Bad. Die Einrichtung ist minimalistisch und stammt größtenteils von Ikea. „Ein paar Möbel hab ich umgebaut und meinen ästhetischen Bedürfnissen angepasst“, sagt Sven.

Und was meint dazu Anja, als Designerin ebenfalls beruflich vorbelastet? „Ich war mit seinen Ideen einverstanden, würde mir in der Wohnung aber mehr Farbe wünschen, vor allem an den Wänden. Die hätte ich gerne in einem warmen Orangeton gestrichen.“ Sven beharrte auf Weiß. Im Gegenzug, sagt er, habe er auf eine Fotowand neben der Küchenzeile verzichtet: „Meine alte Küche hatte ich mit privaten Bildern zugepflastert. Das war für Anja zu viel intimer Ballast aus meinem Leben vor ihr.“ Das mit den Kompromissen finden beide völlig in Ordnung. Allerdings scheinen sich ihre ästhetischen Vorstellungen auch nicht grundsätzlich zu unterscheiden.

Was aber tun, wenn der andere eine diametral entgegengesetzte Vorstellung vom Stil der Wohnungseinrichtung hat? Wenn es um mehr geht als nur um Farbnuancen oder einzelne Möbelstücke, wenn sich die Geschmäcke vollständig unterscheiden und sich jenseits des neutralen Ikea-Ambientes bewegen? Zwischen den blumigen Ornamenten von Laura Ashley etwa, dem elitären Purismus französischer „Ligne Roset“-Designer oder dem bunten Sammelsurium von Flohmärkten liegen Welten, die sich bisweilen nicht so einfach kombinieren lassen.

„Wenn völlig konträre Vorstellungen aufeinander prallen, steht die Beziehung sowieso unter keinem guten Stern“, ist Anja überzeugt. „Bei jemandem, der sich eine Wohnwelt im Chippendalestil zusammengestellt hat, wäre für mich sofort klar: Da gibt’s keine gemeinsame Basis.“ Das sei für sie so wenig prickelnd wie eine Piepsstimme oder Klamotten von Versace.

Ulrike hingegen maß der ungeliebten Antiquitätensammlung ihres Freundes Olaf anfangs nicht so viel Gewicht bei, als sie den Entschluss fassten, zusammenzuziehen. Eine fatale Fehleinschätzung. Dabei hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits wissen können, dass sie sich in einem solchen Ambiente „wie erdrückt“ fühlen würde. „Irgendwie hatte ich darauf gesetzt, dass er den Krempel zurücklässt.“ Oder zumindest einen Teil davon. Wie etwa die Standuhr seiner Großeltern oder die „monströse Anrichte“, die sie als „schrecklichen Kitsch“ empfand. Doch da hatte sie die Rechnung ohne Olaf gemacht, denn der wollte nicht so einfach auf das – wie er es nannte – „wertvolle Familienerbe“ verzichten.

Da es ihm offenbar mehr bedeutete, als sie sich anfangs einredete, widersetzte er sich Ulrikes Forderungen. „Dabei hatte ich wiederum das Gefühl, in der Gestaltung der Wohnung von Olaf dominiert zu werden und mich ihm unterordnen zu müssen“, resümiert Ulrike den Frontverlauf. Der Konflikt habe sich nicht lösen lassen. Für sie am Ende der entscheidende Grund, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen.

Auf dem deutschen Buchmarkt sucht man vergebens nach einem ernst zu nehmenden Ratgeber für die gemeinsame Gestaltung der Wohnung. Otto Friedrich Bollnow beklagte schon in seinem philosophischen Standardwerk „Mensch und Raum“ aus dem Jahr 1963, dass selbst die Dichter, die „immer wieder neue Ausblicke erschließen und an den Grenzen des Sagbaren noch einiges erleuchtend sichtbar machen“, just an dieser Herausforderung scheitern. Oder immer ausgerechnet dann kneifen, wenn es ans Eingemachte geht. „Ihnen scheint es zu genügen, das Glück des Zusammenfindens zu schildern – oder auch den Schmerz, nicht zusammenfinden zu können. Vom wirklich liebenden Zusammenleben schweigen sie. Unbegreiflich!“

Immerhin bietet das Thema reichlich Stoff für tragikomische Nebenhandlungen. Der US-Autor Jonathan Franzen etwa schildert in seinem Bestseller „Die Korrekturen“ den zähen Kampf eines älteren Ehepaars um ein Möbel. Allerdings wird hier nicht gerade die Zuversicht vermittelt, dass sich in einer Beziehung die ästhetischen Vorstellungen mit den Jahren aufeinander einspielen: Enid und Alfred, die schon seit Jahrzehnten zusammenleben, streiten sich immer noch um einen blauen, gepolsterten, gouverneurhaften Sessel – „die einzige größere Anschaffung, die Alfred jemals ohne Enids Einverständnis gemacht hatte“. Nachdem sie das Objekt ein paar Jahre im Wohnzimmer geduldet hat, reißt Enid eines Tages der Geduldsfaden. Sie verlangt, es müsse verschwinden. Da der Sessel für Alfred aber „ein Denkmal und ein Symbol“ darstellt und nicht von ihm getrennt werden darf, landet er im Keller. Und genau dort verbringt Alfred fortan den größten Teil seines Lebens.

AXEL KRÄMER, 36, ist freier Autor und lebt in Berlin – allein!