Das Niemandsland lebt

Wie aus dem sehr öden Belgien der Landstrich einer wunderbaren Utopie werden kann: Das Arsenal zeigt „French Fries“, eine Reihe mit neuen französischsprachigen Filmen aus Belgien

von ANKE LEWEKE

Wenn ich früher mit meiner Oma Kreuzworträtsel löste, tauchte fast jedes Mal die Frage nach dem Heilbad in den belgischen Ardennen auf. Die Antwort lautete: Spa. Obwohl ich im Rheinland groß geworden bin, habe ich es nie zu einem längeren Aufenthalt in dem nahe gelegenen Kurort gebracht. Holland mit seinen einschlägigen Coffee-Shops war das wesentlich interessantere Reiseziel, Belgien blieb bloße Transitstrecke auf den Urlaubsreisen Richtung Spanien. Leere dreispurige Autobahnen, die nachts bestens ausgeleuchtet sind – mehr ist mir von dem kleinen Beneluxland nicht in Erinnerung geblieben. Vielleicht noch die französische Witze, die mein Vater uns während der Durchfahrt erzählte. Blöde Kalauer, die die Belgier immer wie Ostfriesen aussehen ließen.

In Benoît Mariages Regiedebüt „Les Convoyeurs Attendent“ scheinen die Protagonisten tatsächlich einem dieser Jokes entsprungen, wenn Vater und Sohn den Weltrekord im Türoffnen aufstellen wollen. „16.597“ zeigt die Leuchtzahl irgendwann an, doch mittlerweile haben die Zuschauer längst den Saal verlassen. Die Mutter sitzt am Küchentisch, Vater arbeitet als Sensationsreporter, die kleine Tochter schaut ihm bei der Arbeit mit großen Augen zu. Die Skurrilität von Mariages’ Filmfamilie wird durch das Schwarzweiß des Films noch abstrahiert, als wäre das merkwürdige Quartett nur eines unter vielen. Gleichzeitig erinnert es an die Komiker der Stummfilmzeit, die sich stellvertretend für den Zuschauer mit der Mühsal der Arbeit und des Alltags herumschlagem. Wie ein Refrain wird in diesem Film denn auch immer wieder die Totale einer Fabriklandschaft mit rauchenden Schloten eingeblendet, als so klarer wie unaufdringlicher Verweis auf soziale Realitäten.

Diese Industrielandschaften passierten wir auch auf unseren Autofahrten, ebenso die endlosen Felder, auf denen überall dasselbe Getreide angebaut wird. Mit Autokennzeichen-Raten vertrieben wir uns die Zeit, um über diese Tristesse nicht weiter nachdenken zu müssen.

Jetzt liefert mir die vom Arsenal organisierte Filmreihe „French fries – Neue franzözischsprachige Filme aus Belgien“ tatsächlich die dazugehörigen Geschichten. Die trostlosen Transit-Tableaus füllen sich plötzlich mit einem Leben, das hartnäckig auf seine Daseinsberechtigung und unsere Aufmerksamkeit pocht. Es handelt sich um Geschichten, die sich einer gesellschaftlichen Wirklichkeit verpflichtet fühlen. Geschichten, die in ihrer politischen Aufgeschlossenheit an das junge französische Kino erinnern – wie Laurent Cantet oder Bruno Dumont begeben sich auch ihre belgischen Kollegen an die Ränder der globalisierten Gesellschaft.

Höchstwahrscheinlich kein Zufall, dass auch Dumonts preisgekrönte Filme „La Vie de Jésus“ und „L’Humanité“ im Niemandsland der belgisch-französischen Grenze spielen. Eine weitere Parallele dieser Kinoländer ist die Arbeit mit Laien. In seinem Film um einen Fabrikstreik, „Ressources Humaines“, arbeitete Laurent Cantet mit erfahrenen Arbeitern, weil sich die ausdauernde Kraft, die es kostet, den von den Maschinen vorgegebenen Rhythmus einzuhalten, nicht inszenieren lässt.

Auch die belgische Regisseurin Bénédicte Liénard suchte für ihren Film „Une part du ciel“ Darsteller, deren Biografie die fiktiven Figuren des Drehbuchs mit Wahrhaftigkeit ausfüllen können. Wenn die Insassinnen eines Frauengefängnisses in diesem Regiedebüt energisch einen Gang entlangschreiten, dann hat ihr Auftritt etwas Westernhaftes. Gleichzeitig erzählen ihre kampfentschlossenen Gesichter von einem Eingeschlossensein, das schon Jahre vor dem Vorspann begonnen haben muss. Mittels Parallelmontage, eigentlich bevorzugtes Mittel bei Verfolgungsjagden, springt dieser Film zwischen zwei Schlachtfeldern hin und her: Ein Gefängnis und eine Fabrik werden in „Une part du ciel“ zu Orten des Kampfs für bessere Verhältnisse.

In „Le fils“, dem neuen Film der Brüder Dardenne, wird dieser Kampf als innerer Gewissenskonflikt inszeniert. Minutenlang sieht die Kamera einem Mann zu, der Nägel einschlägt, Holz sägt und Späne kehrt. Olivier ist Leiter einer Werkstatt für straffällig gewordene Jugendliche. Ausgerechnet der Mörder seines Sohns kommt eines Tages zu ihm in die Ausbildung. Oliviers Gesichtszügen sieht man die Aggression und die Trauer an, doch allmählich findet er über die routierten Handgriffe seiner Arbeit wieder zu seiner Ruhe zurück. Ein Mann überwindet seine Wut und wird zum Lehrmeister der Person, die ihm das Liebste genommen hat. Aus dem beiläufigen Ineinandergreifen von Hämmern, Feilen, Sägen und vier Händen entwickelt der Film seinen Humanismus – und das öde Belgien meiner Kindheit wird zum Landstrich einer wunderbaren Utopie.

„French Fries – Neue französischsprachige Filme aus Belgien“ im Arsenal vom 4. bis 18. 5. Eröffnung So., 21.30 Uhr: „Une part du ciel“, in Anwesenheit der Regisseurin Bénédicte Liénard